Kinderarmut Deutschlands Schande

Viel zu viele politische Maßnahmen gegen Kinderarmut sind ein Flopp. Denn die Zahl der armen Kinder steigt weiter. Kinderarmut bleibt ein Generationenproblem, sie wird vererbt. Und das ist ein Skandal. Eine Analyse.

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In Deutschland gibt es wieder mehr arme Kinder.

Berlin 2014 hat die Bertelsmann-Stiftung schon einmal auf den engen Zusammenhang zwischen der wachsenden Zahl Alleinerziehender und der recht hohen Kinderarmut in Deutschland hingewiesen. Ihr aktueller Report zum Thema belegt, dass sich die Lage der Alleinerziehenden sich eher noch verschlechtert hat. 41 Prozent waren 2014 von Armut bedroht. Im Report von 2014, der die Entwicklung bis 2012 untersucht hatte, waren es noch 39 Prozent. Warum muss uns das bekümmern?

Im internationalen Vergleich steht Deutschland bei dem Thema Kinderarmut doch gar nicht so schlecht da, wie es die regelmäßigen Alarmmeldungen der Sozialverbände oder auch der Bertelsmann-Stiftung glauben machen wollen. Nach einer Vergleichsstudie vom Kinderhilfswerk Unicef liegt Deutschland von 41 EU-Staaten und OECD-Ländern im Mittelfeld an 14. Stelle. In den vergangenen Jahren ist laut Unicef die „Kinderarmut“ insgesamt in Deutschland sogar eher gesunken, trotz der Zunahme der Probleme bei Alleinerziehenden.

Zudem: Der Armutsbegriff, der der Bertelsmann-Studie zugrunde liegt ist relativ. Danach gelten Familien als von Armut bedroht, wenn ihr verfügbares Einkommen 60 Prozent des mittleren Einkommens unterschreitet. Rein statistisch steigt die Armut also auch dann, wenn in einen Jahr die Zahl der Gutverdiener wächst. Und außerdem: Kinder haben vom Einkommen der Eltern in Deutschland genau die gleichen Ansprüche auf Betreuung und Förderung in Kinderkrippe, Kindergarten und Schule.

Alles richtig. Trotzdem belegen alle Untersuchungen zu diesem Thema, dass Kinder aus Familien, die dauerhaft weniger als 60 Prozent des Durchschnitts zum Leben haben, geringere Chancen haben als andere, ein gutes und erfülltes Leben als Erwachsende zu führen. Das fängt beim rein Materiellen an. „Arme“ Kinder kommen häufiger hungrig und ungewaschen in den Kindergarten oder die Schule. Sie haben zu Hause kein eigenes Kinderzimmer und die Eltern können sich nicht leisten, sie modisch zu kleiden. Aktivitäten, die für Kinder aus wohlhabenden Elternhäusern selbstverständlich sind wie der Besuch eine Musikschule, die Mitgliedschaft in einem Sportverein oder der Besuch eines Museums oder Theaters, sind ihnen verschlossen.


Armut schüchtert ein und macht dick

Armut schüchtert ein. Kinder aus armen Elternhäusern haben oft ein schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern. Der ständige materielle Mangel sorgt für eine gereizte Zustimmung, zumal diese Situation oft von den Eltern oder dem alleinerziehenden Elternteil tabuisiert wird. Sie können Spielkameraden nicht mit nach Hause bringen und werden in der Folge auch seltener eingeladen. Das wirkt negativ auf das Selbstvertrauen. Kinder aus armen Elternhäusern fühlen sich daher schneller überfordert.

Insgesamt zeigen Kinder aus armen Elternhäusern wenig Selbstwertgefühl und wenig Vertrauen in ihre Kraft, Probleme selbst zu lösen und Lehrern oder Spielkameraden von denen sie sich ungerecht behandelt fühlen, Widerstand entgegen zu setzen. Sie reagieren darauf mit Rückzug. Arme Kinder haben daher selten Bezugspersonen außerhalb der Familie. Sie fühlen sich stigmatisiert und ausgegrenzt. Die Probleme sind dann besonders groß, wenn zu Hause nicht offen über die materiellen Probleme gesprochen wird.

„Arme“ Kinder sind häufiger übergewichtig, haben häufiger Karies und Entwicklungsverzögerungen beim Denken, Sprechen und der körperlichen Motorik. Arme Kinder kommen früher in Kontakt mit Zigaretten und Alkohol, sie schauen mehr Fernsehen und verbringen mehr Zeit mit Computerspielen. In der Schule kommen sie schlechter mit. Viele bleiben schon in der Grundschule das erste Mal sitzen. Von 100 Kindern, die bereits während ihrer Kindergartenzeit als arm galten, schaffen nur vier den Übergang zum Gymnasium.

Nicht alle, die es nicht schaffen, tun das deshalb, weil sie so dumm sind. Eine große und traurige Rolle spielen hier auch die Lehrer: Sie neigen dazu, Kindern aus sozial schwachen Familien schlechter zu benoten als Kinder wohlhabender Eltern. In keinem anderen im Rahmen der PISA-Studien untersuchten Land sind die Bildungschancen in so hohem Maß abhängig vom sozialen Status der Eltern.

Alle diese Faktoren führen dazu, dass Kinderarmut tendenziell vererbt wird. Es ist mehr als ein Bonmot, wenn der ehemalige Bürgermeister von Berlin Neukölln Heinz Buschkowsky berichtet, dass Kinder aus seinem in besonderer Weise von Armut geprägten Kiez auf die Frage, was sie einmal werden wollen gesagt haben: Hartz-IV-Empfänger, weil sie zu Hause nichts anderes kennengelernt haben.

Natürlich gibt es auch arme Kinder, deren Eltern es gelingt, das Handicap knapper Mittel zu kompensieren. Das gelingt vor allem Eltern mit einem guten eigenen Bildungshintergrund. Auf einen Teil der Alleinerziehenden trifft dies zu. Denn ihre „Armut“ ist oft lediglich das Resultat davon, dass sie wegen der Kindererziehung teilweise gar nicht oder nur Teilzeit arbeiten können. Daher nehmen sie oft auch Arbeitsangebote unterhalb ihrer beruflichen Qualifikation an. Sie sind somit hochmotiviert, ihrem Kind ein Optimum an Förderung zu ermöglichen und sind in der Regel auch in der Lage, das breite Angebot an öffentlichen Hilfen, dass es dafür gibt zu nutzen.


Der Skandal

Bei den armen Kindern vieler Alleinerziehenden könnte es daher schon genügen, wenn die Politik dafür sorgen würde, dass der Kindesunterhalt vom unterhaltspflichtigen Elternteil zuverlässiger gezahlt wird. Das ist laut Bertelsmann-Studie nur bei jeder zweiten Alleinerziehenden der Fall. 25 Prozent erhalten nur unregelmäßig Unterhalt. Hier sollten die Strafvorschriften verschärft werden. Zudem müssen die Regelungen, nach denen das Sozialamt für nicht geleistete Unterhaltszahlungen in Vorleistung tritt, großzügiger gestaltet werden. Denn hier springt der Staat maximal nur für fünf Jahre ein und für Kinder bis zu zwölf Jahren.

Doch das ist keine Antwort auf das generelle Problem der Kinderarmut. Vielfach werden diese Kinder in Elternhäusern groß, die nicht besonders motiviert sind, ihnen den Weg in ein besseres Leben zu ebnen. Hier ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen nötig. Der Schwerpunkt sollte dabei auf der direkten Förderung der Kinder selbst durch Kinderkrippe, Kindergarten und Ganztagsschule liegen.

Deutschland hat in der Familienpolitik viel zu lange darauf gesetzt, durch ein höheres Kindergeld oder Bildungsgutscheine die Eltern selbst in den Stand zu setzen, materiellen Mangel zugunsten einer stärkeren Förderung der Kinder zu überwinden. Das hat nicht funktioniert. Das Mehr an Mitteln versackte vielmehr in der Haushaltskasse für die nächste Kiste Bier oder den Flachbildfernseher. Die Bildungsgutscheine, die genau solche Effekte vermeiden wollten, aber waren ein Flopp.

Beim Kinderbetreuungsangebot hat es seit der Einführung des Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz im Jahr 2013 deutlich Fortschritte gegeben. Auch die Qualität der Betreuung ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Daneben wird es weiterhin erforderlich sein, den Eltern zu helfen aus ihrer Armut herauszukommen. Doch den Arbeitsämtern gelingt es – trotz guter Konjunktur – kaum, langzeitarbeitslose Hartz-IV-Empfänger in einen dauerhaften Job zu vermitteln. Nur 13 Prozent der rund 1,4 Millionen Langzeitarbeitslosen, die im vergangenen Jahr ihre Arbeitslosigkeit beendeten, fanden tatsächlich eine reguläre Stelle auf dem Arbeitsmarkt.

Ob Ganztagsschule und Kinderbetreuung das Problem Kinderarmut lösen werden, lässt sich erst in Jahrzehnten sagen. Denn Kinderarmut ist bislang auch Generationenproblem. Sie wird zu einem hohen Anteil vererbt. Und das ist in der Tat ein Skandal. Denn jedes arme Kind, das wegen mangelnder Förderung von außen, auch als Erwachsener arm und auf staatliche Hilfe angewiesen bleibt, ist auch ein Verlust für die Gesellschaft. Fast drei Millionen arme Kinder sind auch drei Millionen vertane Chancen für mehr Wirtschaftswachstum und Wohlstand für die ganze Gesellschaft.

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