Die Bundeskanzlerin zeigt in ihrem Metier eine Ausdauer, die derjenigen eines Triathleten oder Tour-de-France-Fahrers nicht nachsteht. Der Terminkalender von Angela Merkel ist beeindruckend. Und darin stehen natürlich nur die öffentlichen Termine...
Nehmen wir beispielhaft vergangenen Mittwoch, den 21. Juni: Der Tag begann mit einer Kabinettsitzung; dann folgte ein Grußwort auf der Konferenz des German Marshall Fund zum 70. Jahrestag des Marshall-Plans, wo sie auch ein wenig mit Henry Kissinger plaudern konnte; am Nachmittag – hoffentlich fand sie zwischendurch Zeit für ein Mittagessen – empfing sie die 69 Preisträgerinnen und Preisträger des 52. Bundeswettbewerbs „Jugend forscht“ im Kanzleramt mit einer Begrüßungsrede.
Für normale Menschen, auch stressgewohnte Führungskräfte, wäre das schon ein wahrlich ereignisreiches Tagesprogramm gewesen, das man erst mal verarbeiten muss.
Aber für die Kanzlerin kam noch der Empfang des finnischen Ministerpräsidenten Juha Sipilä dazu, mit dem sie sich „vor dem Treffen des Europäischen Rates am 22./23. Juni über europapolitische Fragen, bilaterale Beziehungen und internationale Themen“ austauschte. Und auch das war noch nicht das komplette Programm an diesem ganz normalen Kanzlerinnenarbeitstag. Schließlich hielt sie noch eine „Rede zur aktuellen Bau- und Wohnungspolitik“ beim Tag der Immobilienwirtschaft.
Hohe Konzentration gefragt
Der berauschende Effekt der eigenen Wichtigkeit durch solch eine Abfolge von Rampenlicht-Terminen mag die Kanzlerin aufputschen, so dass sie ohne Burnout oder Erschöpfungssymptome am nächsten Tag nach Brüssel reisen und dort in einem noch viel helleren Rampenlicht mit ihren EU-Amtskollegen über Migration, Sicherheit, Verteidigung, den Brexit und Wachstum sprechen konnte.
Das Wachstum der Politikerreisen und die immer kürzere Frequenz von politischen Gipfeltreffen ist ohnehin ein erstaunliches Phänomen. Die Regierungschefs der EU treffen sich mindestens viermal pro Jahr zu offiziellen EU-Gipfeln, dazu kommen NATO-Gipfel, G7-Gipfel, G20-Gipfel und unzählige Staats- und Arbeitsbesuche, die es wie der Besuch von Sipilä am Mittwoch kaum noch in die Nachrichtenspalten schaffen.
Ob diese Gipfel-Inflation der Lösung politischer Probleme wirklich zuträglich ist, darf bezweifelt werden – Roosevelt, Stalin und Churchill genügten, nebenbei gesagt, zwei große Gipfeltreffen, um den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen, und eines, um die Nachkriegsordnung zu beschließen. Nicht zu bezweifeln ist jedenfalls, dass diese Verdichtung von Politik durch Terminflut und öffentlich präsentierte Geschäftigkeit Angela Merkel sehr entgegen kommt.
Das Zeitalter der Nähe zwischen Politik und Intellekt scheint vorbei
Eher kontemplative Politiker mit intellektuellen Interessen und Talenten, Typen wie Benjamin Disraeli oder André Malraux, die neben der Politik Weltliteratur verfassten (beziehungsweise umgekehrt) gibt es nicht mehr. Das Zeitalter der bisweilen intimen Nähe zwischen Politik und Intellekt scheint vorbei.
Für die Kanzlerin scheinen Bücher keine besondere Bedeutung zu haben. Wir wissen von einem Vorlesetermin der Kanzlerin bei Kindern in Vorpommern, wo sie über ihre „Struwwelpeter“-Lektüre als Kind berichtete. Und seither? Man weiß es nicht wirklich. Einem ZEIT-Artikel von 2008 zufolge, hat sie damals eine Biografie des Malers Emil Nolde mit in den Sommerurlaub genommen. 2011 will sie im Urlaub das Libretto der Richard-Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ gelesen haben.
Der 2010 verstorbene Regisseur Christoph Schlingensief jedenfalls war mal mit einigen anderen Künstlern im Kanzleramt zu Gast. Ihr sei keine Frage eingefallen außer, ob man noch Schnittchen wolle. Von Richard Wagner jedenfalls habe Merkel keine Ahnung, sagte der damalige Regisseur der Bayreuther Festspiele .
Die Kanzlerin, die nichts sagt
Nun ja, die Kenntnisse Merkels über Emil Noldes Kunst und Richard Wagners Opern, sind nicht wirklich relevant für ihre Funktion als Bundeskanzlerin. Aber auch Literatur mit unmittelbarem Bezug zu ihrer Politik scheint die Kanzlerin wenig zu interessieren. Das von Millionen Deutschen diskutierte Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin bezeichnete sie schon vor Erscheinen als „überhaupt nicht hilfreich“, um später zuzugeben, dass sie es gar nicht gelesen habe. Seither sagt sie über Bücher, die das Land bewegen, einfach gar nichts. Zum Beispiel über „Die Getriebenen“ von Robin Alexander. Da geht es immerhin um ihr und ihrer Minister Handeln in einer entscheidenden Phase ihrer Kanzlerschaft. Das Fazit ist vernichtend: eine Regierung, die sich von der Angst vor hässlichen Bildern treiben lässt.
Die Kanzlerin schweigt auch dazu. Das ist gerade ihr Erfolgsrezept: Diskurse vermeiden. Sie beherrscht wie kein anderer Politiker die Kunst, Politik hinter einem Schleier der Geschäftigkeit zu verstecken. Sie ist dauerpräsent, ohne je etwas wirklich diskutables jenseits von Allgemeinplätzen und Phrasen – „Wir schaffen das“ – zu sagen. Sie ist sehr schlau und hat erkannt, dass man heutzutage leichter regiert, wenn man nicht über politische Überzeugungen und Ziele spricht, sondern Gefühlslagen bedient.
Einmal passierte ihr ein Ausrutscher. In ihrer Regierungserklärung von 2009 schien sich ein Interesse an grundsätzlichen, großen Fragen der Zeit anzukündigen, als Merkel ankündigte, man habe nun den Auftrag, „eine Art des Wirtschaftens zu entwickeln, die nicht die Grundlagen ihres eigenen Erfolgs zerstört“. Ökologische Denker wie Meinhard Miegel erinnern immer wieder an dieses Merkel-Wort. Aber es gibt seither keine Reaktion mehr aus dem Kanzleramt. Auch die Ergebnisse der Enquete-Kommission des Bundestages zu „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“, des wohl einzigen groß angelegten Versuchs dieses Jahrzehnts, Politiker und Denker zusammen zu bringen, stießen bei Merkel auf kein erkennbares Interesse.
Merkel hat aus ihrer größten Schwäche eine Stärke gemacht
Merkel hat ihre größte Schwäche, die Unfähigkeit zur klaren und konzisen Sprache, zu einer Stärke umfunktioniert. Ein Kunstwerk, das Max Weber mit seiner Vorstellung vom charismatischen Politiker, der in Redeschlachten Mehrheiten überzeugt, wohl noch für unmöglich gehalten hätte. Aber Weber kannte eben die postdemokratische, sentimentale Wohlstandsgesellschaft noch nicht. Merkel kann so regieren, wie sie es tut, weil die Regierten ihr das zubilligen und keine Erklärungen verlangen, sofern ihre moralischen Gefühle befriedigt werden.
Merkel entzieht sich dadurch nicht nur den Niederungen des Wahlkampfes (und treibt Martin Schulz damit zur Verzweiflung), sondern der Politik generell. Zumindest dem, was man früher einmal unter demokratischer Politik verstand, nämlich dem dialektischen Prozess zwischen Regierungshandeln, Kritik der Opposition und Rechtfertigung der Regierung.
Erinnert sich, jetzt wo der große Helmut Kohl tot ist, noch jemand an die Dauerkritik der Journalisten und fast der gesamten publizierenden Klasse an ihm? Und an seine oft wütenden Antworten vor Fernsehkameras? An sein standhaftes Deutschlandlied-Singen am Abend nach dem Mauerfall gegen das Gepfeife seiner geschichtsblinden Gegner in Berlin?
Merkel nutzt eine Möglichkeit aus, die wir ihr lassen
All das bleibt Merkel erspart. Mehr noch: Wenn Publizisten, die ihr das nicht ersparen wollen, „Eine kritische Bilanz“ vorlegen, wird diesen dafür in der Taz „Hass“ unterstellt. Und öffentliches Hassen ist bekanntlich demnächst strafbar. Während Journalisten sich einst vor allem Kritik an den Regierenden zur Aufgabe machten und Kohl und seiner CDU keine ruhige Minute ließen, kritisieren sie jetzt lieber die wenigen Regierungskritiker. Da kann Angela Merkel in Ruhe ihren anstrengenden Termin-Marathon abklappern.
Der eigentliche Vorwurf ist also nicht der Kanzlerin zu machen. Sie nutzt dank ihrer phänomenalen Intelligenz nur eine Möglichkeit, die ihr das Volk und vor allem dessen Elite gewährt: Es lässt sich beeindrucken von der Präsentation kümmernder Geschäftigkeit und (durchaus glaubhafter) Redlichkeit – und verzichtet auf das, was jede Regierung ihm, also dem Souverän, nach demokratischer Theorie eigentlich schuldig ist: Rechenschaft.