Zwei Debatten beherrschen derzeit fast jedes Gespräch über die nahe Zukunft unserer westlichen Gesellschaften, die sich selbst vor allem als Systeme von erwerbswirtschaftenden und konsumierenden Menschen betrachten. In der einen heißt die Diagnose „Fachkräftemangel“ und die Heilung verspricht man durch „Fachkräftezuwanderung“. In der anderen heißt die Diagnose „Digitalisierung ersetzt menschliche Arbeit“ und als soziale Medizin gilt das „bedingungsloses Grundeinkommen“. Wenn man will, kann man derzeit von einer Tagung übers Grundeinkommen fast pausenlos zur nächsten weiterfahren. Und dem Fachkräftemangel kann man gerade in Zeiten der Koalitionsverhandlungen ohnehin nicht entkommen.
Seltsamerweise finden beide Debatten aber fast nie zueinander. Die vor Fachkräftemangel warnen, scheinen in einer völlig anderen Welt zu leben als diejenigen, die eine Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit befürchten durch Rechenmaschinen, die den Menschen nicht nur viel Handarbeit im produzierenden Gewerbe, sondern auch zahlreiche Schreibtisch-Tätigkeiten – etwa im Controlling und Rechnungswesen – wegnehmen werden.
Es ist, als ob da zwei Zukünfte auf uns zukämen, die nichts miteinander zu tun hätten!
Der Fachkräftemangel- und Fachkräftezuwanderungsdiskurs ist intellektuell wenig anspruchsvoll. Letztlich erkennt man da nur ein in Verbandspropaganda übersetztes ökonomisches Interesse der Arbeitgeber, das so alt ist wie die Marktwirtschaft selbst. Man muss keineswegs Kommunist sein, um die Theorie der „industriellen Reservearmee“ von Karl Marx auch heute noch bestätigt zu sehen. Sie ist ja auch recht banal. Kapitalistische Arbeitgeber profitieren doppelt von einem Anstieg des Arbeitnehmerangebots: Erstens drücken die nach Beschäftigung Suchenden den Lohn der tatsächlich Beschäftigten, zweitens ermöglichen sie bei Gelegenheit eine rasche Ausdehnung der Kapazitäten, eröffnen also Spielraum für Unternehmertum.
Darum trennen die Interessenvertreter deutscher Unternehmen diese kurzfristig orientierte Werbekampagne streng ab von ihren zugleich erhobenen Forderungen nach staatlichen Investitionen in die Digitalisierung, die dem langfristigen Erhalt ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit dienen. In keiner Pressemitteilung eines Verbandes über den drohenden Fachkräftemangel wird erwähnt, dass die Digitalisierung wohl einen großen Teil der heute noch „Fachkräfte“ zu dann Nicht-Mehr-Fachkräften machen wird. Der Ökonom und Demograf Thomas Straubhaar gehört zu den wenigen, die es so klar sagen: „Der Fachkräftemangel ist ein Phantom.“
Welche Folgen die technologische Effizienzsteigerung durch Maschinen für eine Gesellschaft haben können, wenn sie nicht von funktionierenden sozialen Sicherungssystemen aufgefangen werden, zeigt die Geschichte des 19. Jahrhunderts: die Verelendung ganzer Klassen und ihre Entfremdung von den Besitzenden, am Ende drohen Klassenkämpfe und Revolutionen. Der Sozialstaat und die „soziale“ Marktwirtschaft waren die Antwort.
Konzepte zur Förderung eines bedingungslosen Grundeinkommens
1000 Euro finanziert durch...
- 50 % Steuer auf jedes Einkommen aus Arbeit und Kapital
- Prinzip der negativen Einkommensteuer: Verrechnung Grundeinkommen mit Steuerschuld
- Abschaffung aller Sozialabgaben und -leistungen
1000 Euro finanziert durch...
- Arbeit von Kosten befreien
- Konsumsteuer: Verbrauch von Gütern, Ressourcen und Dienstleistungen mit circa 100 % besteuern
- Versicherungen ersetzen oder reduzieren
1000 Euro* finanziert durch...
- Steuererhöhungen, u. a. von hohen Vermögen
- BGE-Abgabe
- Bürokratieabbau
*bzw. 50% des Volkseinkommens
Das bedingungslose Grundeinkommen soll jetzt der neue große Wurf zur Lösung dieses drohenden Problems der durch die Digitalisierung entbehrlich gewordenen Arbeitskraft sein. Längst sind es nicht mehr nur randständige Idealisten, die es für die Zukunft des Sozialstaates halten, sondern auch viele Manager, Professoren und Politiker.
Da Arbeit zunehmend durch vernetzte Maschinen erledigt wird, mache es keinen Sinn, vor allem Einkommen aus Arbeit zu besteuern und mit Abgaben zu belegen, Gewinne vor allem aus der Digitalwirtschaft und aus Finanzanlagen dagegen zu schonen. Also soll der Staat seine Steuerbasis von der Arbeit auf das Kapital verlegen und daraus „allen“ ein Einkommen deutlich über den bisher üblichen Sicherungsleistungen des Sozialstaates zahlen. Von mindestens 1000 Euro im Monat ist meist die Rede – bis ans Lebensende. Dafür könnte mit den bisherigen Bedingungen für den Bezug von Leistungen auch das gesamte Sozialversicherungswesen samt Bürokratien entfallen. Das Versprechen: mehr soziale Gerechtigkeit bei weniger Kontrolle und mehr Freiheit.
Restlos überfordert
Interessanter und pikanter als die Standardgegenargumente sowohl von Marktliberalen als auch von Gewerkschaftern – es drohe eine allgemeine Leistungsentwöhnung einerseits und der Verrat am Versprechen des sozialen Aufstiegs durch Lohnarbeit andererseits – ist aber die Frage danach, wer genau denn nun jene „alle“ sein sollen. An dieser Frage entscheidet sich nämlich, ob das Konzept eine realistische politische Option oder nur eine Fantasterei sein kann. Und diese Frage wäre auch der empfindliche Berührungspunkt mit der Fachkräftemangel-Behauptung: Wie passen Grundeinkommen und Einwanderung zusammen?
Die meisten, die das Grundeinkommen fordern, blenden diese Frage einfach aus. Sie sprechen von „allen“ und „bedingungslos“, ohne zu hinterfragen, ob das nun alle deutschen Staatsbürger sein sollen, einschließlich aller EU-Bürger oder schlicht wirklich alle Menschen, die in Deutschland leben. Die aktivsten Befürworter, die sich im „Netzwerk Grundeinkommen“ zusammengeschlossen haben, fordern: „Das Grundeinkommen ist ein Menschenrecht, nicht ein Recht, das an eine bestimmte Nationalität gebunden ist. Das Ziel des Netzwerks ist die europa- und weltweite Einführung des Grundeinkommens und der Zugang aller Menschen zu einem Grundeinkommen, egal wo sie leben.“
Damit hängen sie ihr Ziel so hoch, dass es letztlich unerreichbar wird. Ein aus den Steuern der Kapitalbesitzer finanziertes und vom Staat verwaltetes Einkommen ist schließlich nichts anderes als ein radikal reformierter, vereinfachter, aber in seinen Zahlungsvolumina noch deutlich vergrößerter Sozialstaat. Und der ist nicht nur historisch, sondern auch gegenwärtig an den Nationalstaat gebunden. Jedes System der Solidarität setzt, wenn es nachhaltig sein soll, voraus, dass die Gruppe der potentiellen Nehmer beschränkt bleibt und im Großen und Ganzen identisch ist mit der Gruppe der Einzahler.
Nettoeinkommen bei verschiedenen Grundeinkommens-Modellen
Diese Statistik gibt Nettoeinkommen eines Singles bei verschiedenen ausgewählten Grundeinkommens-Modellen im Vergleich wieder.
Quelle: Netzwerk Grundeinkommen / Statista
Bruttoeinkommen heute: 0 Euro
Netto heute: 631 Euro*
Netto Solidarisches Bürgergeld (Althaus, CDU): 600 Euro
Netto Bedingungsloses Grundeinkommen (Die Linke): 950 Euro
Netto Grundsicherung (Grüne): 860 Euro
*Dem "Nettoeinkommen heute" bei einem Bruttoeinkommen von 0 Euro wurden die durchschnittlichen Kosten für Unterkunft und Heizung eines Singles von 280 Euro (Bundesagentur für Arbeit, 2007) zugrunde gelegt.
Bruttoeinkommen heute: 500 Euro
Netto heute: 807 Euro
Netto Solidarisches Bürgergeld (Althaus, CDU): 850 Euro
Netto Bedingungsloses Grundeinkommen (Die Linke): 1.218 Euro
Netto Grundsicherung (Grüne): 930 Euro
Bruttoeinkommen heute: 750 Euro
Netto heute: 857 Euro
Netto Solidarisches Bürgergeld (Althaus, CDU): 975 Euro
Netto Bedingungsloses Grundeinkommen (Die Linke): 1.351 Euro
Netto Grundsicherung (Grüne): 965 Euro
Bruttoeinkommen heute: 1.000 Euro
Netto heute: 887 Euro
Netto Solidarisches Bürgergeld (Althaus, CDU): 1.100 Euro
Netto Bedingungsloses Grundeinkommen (Die Linke): 1.485 Euro
Netto Grundsicherung (Grüne): 1.000 Euro
Bruttoeinkommen heute: 1.500 Euro
Netto heute: 1.059,35 Euro
Netto Solidarisches Bürgergeld (Althaus, CDU): 1.350 Euro
Netto Bedingungsloses Grundeinkommen (Die Linke): 1.710 Euro
Netto Grundsicherung (Grüne): 1.250 Euro
Bruttoeinkommen heute: 2.000 Euro
Netto heute: 1.319,63 Euro
Netto Solidarisches Bürgergeld (Althaus, CDU): 1.700 Euro
Netto Bedingungsloses Grundeinkommen (Die Linke): 1.923 Euro
Netto Grundsicherung (Grüne): 1.500 Euro
Bruttoeinkommen heute: 2.500 Euro
Netto heute: 1.568,92 Euro
Netto Solidarisches Bürgergeld (Althaus, CDU): 2.075 Euro
Netto Bedingungsloses Grundeinkommen (Die Linke): 2.126 Euro
Netto Grundsicherung (Grüne): 1.750 Euro
Bruttoeinkommen heute: 3.000 Euro
Netto heute: 1.804,67 Euro
Netto Solidarisches Bürgergeld (Althaus, CDU): 2.450 Euro
Netto Bedingungsloses Grundeinkommen (Die Linke): 2.318 Euro
Netto Grundsicherung (Grüne): 2.000 Euro
Bruttoeinkommen heute: 4.000 Euro
Netto heute: 2.271,08 Euro
Netto Solidarisches Bürgergeld (Althaus, CDU): 3.200 Euro
Netto Bedingungsloses Grundeinkommen (Die Linke): 2.668 Euro
Netto Grundsicherung (Grüne): 2.500 Euro
Bruttoeinkommen heute: 5.000 Euro
Netto heute: 2.797,41 Euro
Netto Solidarisches Bürgergeld (Althaus, CDU): 3.950 Euro
Netto Bedingungsloses Grundeinkommen (Die Linke): 2.975 Euro
Netto Grundsicherung (Grüne): 3.000 Euro
Bruttoeinkommen heute: 7.000 Euro
Netto heute: 3.915,43 Euro
Netto Solidarisches Bürgergeld (Althaus, CDU): 5.450 Euro
Netto Bedingungsloses Grundeinkommen (Die Linke): 3.545 Euro
Netto Grundsicherung (Grüne): 4.000 Euro
Bruttoeinkommen heute: 10.000 Euro
Netto heute: 5.586,13 Euro
Netto Solidarisches Bürgergeld (Althaus, CDU): 7.700 Euro
Netto Bedingungsloses Grundeinkommen (Die Linke): 4.400 Euro
Netto Grundsicherung (Grüne): 5.500 Euro
Die Debatte um die Zukunft der Arbeit und erst recht die Debatte um den Sozialstaat muss aber, wenn sie mehr als Traumtänzerei fabrizieren will, endlich ehrlich geführt werden. Das heißt sie muss unter Einbeziehung der Zuwanderungsrealität geführt werden. Und diese Realität ist entgegen eines sentimentalen Vorurteils von Zuwanderern geprägt, die in der großen Mehrzahl zwar „Flüchtlinge“ genannt werden, es aber streng genommen nicht sind. Denn sie kommen, wie die geringen Asyl-Anerkennungsquoten zeigen, selten wegen Verfolgung in ihrer alten Heimat nach Deutschland, sondern werden vielmehr angezogen von ökonomischen Möglichkeiten und, ja, auch de facto bedingungslos gezahlten Staatsleistungen, die es in ihren Heimatländern so nicht gibt.
Ein in Deutschland eingeführtes Grundeinkommen, das jedem Erdbewohner zustünde, der es irgendwie schafft, Deutschlands Grenzen zu überschreiten, würde die Sogwirkung, die ohnehin vom deutschen Sozialstaat ausgeht, extrem verstärken. 1000 Euro im Monat sind in den meisten Herkunftsländern ein kaum durch Arbeit zu erzielendes Einkommen. Der Grundeinkommensstaat wäre, wenn er sich nicht konsequent gegen ausländische Empfänger abschließt, schnell restlos überfordert.
Wer den Sozialstaat langfristig erhalten oder ihn gar zu einer Instanz für die Auszahlung eines bedingungslosen Einkommens umwandeln will, muss sich also klarmachen, dass das kein Grund- oder Menschenrecht sein kann. Je nachhaltiger und zahlungskräftiger man den Sozialstaat machen will, desto konsequenter muss die Abgrenzung gegen nicht Anspruchsberechtigte sein. Andersherum formuliert: Wer von No-Borders und One-World sprechen will, sollte vom bedingungslosem Grundeinkommen lieber schweigen.