Knauß kontert Die Illusionen der grenzenlosen Welt

Seite 2/2

Der Elefant im Raum

Aber diese begrenzenden Strukturen deswegen ganz und gar zu sprengen, dürfte weder zu einem grenzenlosen Weltreich der gelebten Solidarität und Gerechtigkeit führen, von dem linke Grenzüberwinder träumen, noch zum Ideal einer grenzenlos effizienten und von keiner sozialen Rücksicht gebremsten Weltmarktordnung, auf die radikalliberale Ökonomen und Unternehmenslenker spekulieren. Beide beruhen auf Illusionen, weil beide die Bedeutung eben dieser historisch gewachsenen Strukturen unterschätzen.

Entgegen mancher Vorurteile ist jeder funktionierende Markt auf verlässliche staatliche Strukturen angewiesen. Auch Pessoas anarchistischer Bankier konnte nur reich werden, weil es diese Strukturen gab, von denen er sich selbst (und nicht alle anderen!) befreien wollte. Und zu diesen Strukturen gehört nicht zuletzt die begrenzende Kontrolle über den Zuzug von Ausländern, das heißt den Zugang von Außenstehenden zum Arbeitsmarkt und zur Solidargemeinschaft. Denn in einem konsequent grenz- und staatenlosen Raum herrscht - das zeigt die Weltgeschichte nun wirklich deutlich genug - nicht das Ordnungsprinzip von Angebot und Nachfrage, sondern das der stärksten Faust.

Ebenso wie ein funktionierender Markt kann auch Solidarität, die nicht nur eine idealistische Phrase sein soll, sondern eine Kombination von Rechten und Pflichten, nur im Rahmen von vertrauenswürdigen, also kulturell verwurzelten Institutionen stattfinden. Und diese können nur begrenzte Menschengruppen umfassen, die dieses Vertrauen in einem langen historischen Prozess entwickelt haben. Denn die Möglichkeiten und die Bereitschaft der Mitglieder zum Geben muss mit den Bedürfnissen der Empfänger im Gleichgewicht stehen. Der Nationalstaat als Sozialstaat ist so eine Solidargemeinschaft. Die Misserfolgsgeschichte der Europäischen Union zeigt, wie zerbrechlich und konfliktanfällig die Konstruktion einer darüber hinaus gehenden Solidargemeinschaft ist, wenn Ansprüche der Empfänger und Unterstützungsbereitschaft der Geber verschieden sind. Die gesamte Menschheit ist jedenfalls auf absehbare Zeit keine vertrauenswürdige Solidargemeinschaft.     

Natürlich weiß noch niemand, wie die mittel- und langfristigen Auswirkungen der extrem permissiven deutschen Zuwanderungspraxis auf die ökonomische Dynamik aussehen werden. Doch die Auswirkung der Öffnung des deutschen Sozialstaates für alle, die es irgendwie schaffen deutsches Staatsgebiet zu erreichen, sind anderthalb Jahre nach der Willkommenseuphorie von 2015 offenkundig: Die Zahl der Empfänger von Solidaritätsleistungen steigt sehr viel schneller als die der Geber.

Noch kann die Bundesregierung die extrem gestiegenen Mehrausgaben dank des Booms bewältigen, ohne dass die einheimischen Geber und Empfänger die Folgen der Grenzöffnung unmittelbar finanziell spüren. Doch die Nachricht dieser Woche, dass der gesamte Etatüberschuss des Bundes 2016 in die Rücklage für die noch zu erwartenden Flüchtlingskosten fließen wird, zeigt auf den sprichwörtlichen „Elefanten im Raum“, den sich die Politik in Deutschland zu ignorieren entschlossen hat: Auf mittlere und lange Sicht ist die gleichzeitige Fortexistenz von unbegrenzter Zuwanderung, versorgendem Sozialstaat und sozialer Marktwirtschaft nicht vereinbar.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%