Knauß kontert
Demonstration zum Auftakt des

Die 68er und der beschleunigte Kapitalismus

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

2018 werden sich die 68er noch einmal selbstgerecht feiern. Sie halten sich für links. Aber die damals entstandene neue hedonistische Linke entfremdete sich von den Arbeitern und gab dem Konsumkapitalismus neuen Schwung.

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Zu dem Wenigen, was man für 2018 sicher voraussagen kann, gehört, was Norbert Bolz kürzlich twitterte: Es wird „das Jahr, in dem sich die Gerontokratie der 68er noch einmal schamlos selbst feiert.“ Historische Aufklärung, geschweige denn Kritik ist kaum zu erwarten. Die „68er“, damals fast ausnahmslos junge Studenten, sind heute rüstige Rentner in Jubiläumslaune, die nostalgisch auf die Taten ihrer Jugend zurückblicken. Auch in Büchern wie „Das Jahr der Revolte – Frankfurt 1968“ von Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger.

Widerspruch kommt nur von wenigen Abtrünnigen wie dem Historiker Götz Aly, der schon 2008 mit seinem Buch „Unser Kampf“ auf ideologische Parallelen zur Nazigeneration anspielte und dafür angefeindet wurde. Im Großen und Ganzen haben die 68er geschafft, was der vorangegangenen Generation ganz und gar nicht vergönnt war: Den Nachkommen ein durch und durch positives Heldenbild von sich selbst zu hinterlassen.

Welch ein Kontrast zu der in diesen Jahren sang- und klanglos verstorbenen Generation der „45er“, der Kriegsteilnehmer und Trümmerfrauen. Die „skeptische Generation“ nannte der Soziologe Helmut Schelsky sie. Die 68er könnte man im Gegensatz dazu die „unskeptische Generation“ nennen.

von Christopher Schwarz, Dieter Schnaas

Man muss sich zunächst vergegenwärtigen, in welcher einmaligen historischen Ausnahmesituation diese Generation aufwuchs, lebte und enden wird. Die vor ihnen kommenden „45er“ hatten auf ein materiell und mental in Trümmern liegendes Land geblickt. Ihre Grunderfahrung, so Schelsky, war die „einer permanenten Gefährdung des Menschen von außen und innen, das Erleben des Zufälligen und Versehrbaren jeglicher sozialen und menschlichen Sicherheit und Stabilität“. Nach der Jahrhundertkatastrophe widmeten die „45er“ sich – aller Illusionen entledigt – der nüchternen Konsolidierung dessen, was Krieg und Naziherrschaft übrig gelassen hatten. Aly sprach in einem Interview kürzlich von einem „therapeutischen Koma“.

Die 68er dagegen hatten viel Zeit für Happenings, Sit-Ins und Demonstrationen. Als Studenten (damals rund zehn, heute 58 Prozent eines Jahrgangs) waren sie die intellektuelle Avantgarde der ersten Generation des 20. Jahrhunderts, die soziale Sicherheit und Wohlstand als gegeben annehmen und sich der Selbstverwirklichung widmen konnte. Wohl keine Generation zuvor war vergleichsweise so frei von materiellen Nöten und Sorgen. Vermutlich wird auch keine mehr so entspannt der Rente entgegensehen können. Kommen derzeit auf 100 Werktätige rund 35 Personen über 65 Jahren, werden es im Jahr 2050 fast 60 sein.

Im heroischen Selbstbild der 68er steht ihre Revolte als eigentlicher Gründungsmythos der bundesrepublikanischen Gesellschaft da. Das ist insofern falsch, als es den Anschein erweckt, als ob da irgendetwas hart erkämpft wurde, das nicht ohnehin längst im Kommen gewesen wäre. Die 68er rannten mit theatralischen Gesten und entsprechendem Spaß Tore ein, die entweder schon offen standen oder nicht ernsthaft verteidigt wurden. Der vorgeblich repressive Staat, den die 68er so hingebungsvoll beklagten, ließ sie weitestgehend gütig gewähren. Die Revolte wurde nicht niedergeschlagen wie zeitgleich der Prager Frühling durch die Sowjetunion. Veranstaltungen wie der "Internationale Vietnamkongreß" wurden nicht verboten. „Wir wollen uns so weit wie möglich zurückhalten“, erklärte ein Polizeisprecher. Nicht zuletzt: Die Presse – von Springer abgesehen – stand den Studenten verständnisvoll gegenüber, bot Dutschke und Co. ausgiebig Sendezeit. Man lese den „Spiegel“ oder die „Zeit“ jener Jahre. Die meisten Intellektuellen ergriffen offen für die Studenten Partei.

Umgestoßen haben die 68er nichts, was nicht ohnehin abbruchreif war – wie die bürgerliche Sexualmoral. Der Wertewandel, also die Auflösung der bürgerlichen Konventionen, war ein das gesamte 20. Jahrhundert prägender Prozess. Auch die Beschäftigung mit den Nazi-Verbrechen hatte schon viele Jahre vor 1968 begonnen.

Nicht abbruchreif war dagegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Vor den Werktoren der Betriebe holten sich die 68er eine eindeutige Abfuhr, als sie ihre marxistisch-maoistischen Theorie-Abenteuer in die revolutionäre Tat umsetzen wollten. „Nirgends kam zustande, was in Frankreich zur Staatskrise gedieh und Linke in Deutschland erträumt hatten: Massenstreiks und Solidarisierung“, schreib der „Spiegel“ im Juni 1968. Studenten besetzen Uni-Rektorate, Pennäler schwänzten den Unterricht, um zu demonstrieren, aber die Arbeiter machten einfach nicht mit. Sie erhofften sich keine Revolution, sondern Tariferhöhungen und Betriebsrenten.

68 und die Entfremdung von den kleinen Leuten

Es war die einzige, aber entscheidende Niederlage der 68er. Die Ablehnung durch die heimischen Malocher war eine Kränkung, die die neuen Linken bis heute nicht vergessen haben. Die Konsequenz: Den marxistisch-antikapitalistischen Kampf, der ohnehin wie eine Karikatur der Klassenkonflikte vergangener Zeiten wirkte, gaben die 68er in den Jahren danach fast vollständig auf – von den radikalisierten Terror-Phantasten der RAF abgesehen.

1968 gilt als „links“. Die Protagonisten sahen und sehen das so. Tatsächlich aber läuteten sie das Ende der Linken als eigenständige politische Kraft ein. Damals begann zunächst unmerklich, was sich heute in Wahlergebnissen immer deutlicher offenbart: die Entfremdung der neuen Linken von den kleinen Leuten, von der Unterschicht.

Die Ablehnung durch das imaginierte revolutionäre Subjekt Proletariat führte dazu, dass sich die neue Linke andere politische Projekte suchte. Sie fand sie in Minderheiten („Diskriminierung“ ist einer der wirkmächtigsten Begriffe des 68er Jargons), in den ausgebeuteten Völkern des globalen Südens und nicht zuletzt in der „Umwelt“. Die Übernahme der ökologischen Sorgen – bis in die späten 1970er Jahre und noch bei der Gründung der Grünen eine Domäne von Konservativen wie Herbert Gruhl – war einer der raffiniertesten machtpolitischen Schachzüge der 68er. Die neue Linke schlug eine Brücke zu dem, was vom deutschen Bildungsbürgertum noch übrig blieb. Hier wurde das heutige Juste-Milieu der (west)deutschen Gesellschaft begründet.   

Und was bleibt vom Antikapitalismus der 68er? Wenig außer Phrasen und radikalen Subkulturen. Im Gegenteil: Tatsächlich hat die Bewegung der 68er die Entwicklung hin zur systemischen Produktions- und Konsumgesellschaft befördert. Denn in den Jahren nach 1968 wurde eine neue Art des wohlsituierten Linksseins geboren, die mit den altkommunistischen, kollektivistischen Idealen aus der Klassenkampfzeit immer weniger zu tun hatte, sondern mit der neuen Art des Kapitalismus, der zeitgleich entstand, bestens zu vereinbaren ist. Beide fordern, fördern und feiern das hedonistische Individuum: Das unmittelbare Selbst, das sich von allen traditionellen Bindungen und überkommenen Zwängen frei macht.

Die bleibenden Werte der 68er waren autonomistisch – und damit höchst kompatibel mit den Angeboten des Konsumkapitalismus. Sie äußern sich in einem seit damals etablierten Jargon, dem kein Banker widersprechen wird: „Mensch“ (der „Bürger“ hingegen verschwindet aus dem Wortschatz), Selbstverwirklichung, Wahlfreiheit, Emanzipation, Entgrenzung, Lockerheit, Gleichberechtigung, Toleranz, Vielfalt, Authentizität, Selbstsein. Oder in die Sprache der Werber übersetzt: „Unterm Strich zähl ich“.

Die vorgeblich linke 68er-Bewegung hat damit ein Menschen- und Gesellschaftsbild befördert, das der Deregulierungstendenz der 90er und 2000er Jahre den Weg frei machte. In jüngster Zeit wirkte sich der antiregulative Turn der Post-68er-Linken vor allen in ihrer migrationspolitischen Haltung aus. Wie der – linke – Soziologe Wolfgang Streeck feststellt: „Traditionell befürwortete die Linke in der politischen Ökonomie Regulierung als Verteidigungsmaßnahme gegen die Unsicherheiten freier Märkte, während Deregulierung von der Rechten gewünscht war. Indem sie für die Deregulierung von Ländergrenzen mit offener Einwanderung kämpft, gibt die Linke ein zentrales Element ihrer historischen Pro-Regulierung-Agenda auf, zu der nicht zuletzt die Beschränkung des Arbeitsangebots gehörte, um Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zu begrenzen.

Mit noch mehr zeitlichem Abstand und nach dem längst überfälligen Fall des Deutungsmonopols der Veteranen wird klar werden: „68“ war kein revolutionäres Ereignis, das eine alte Ordnung beseitigte, sondern ein Unternehmen zur Beschleunigung der „Flucht nach vorne“ der Marktgesellschaft. Damals hat eine von Skepsis weitgehend freie Avantgarde letzte Hindernisse auf diesem Weg angesägt, ohne zu bedenken, dass sie möglicherweise notwendige Stützen waren.

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