Knauß kontert

Die zwei großen Ängste der Gegenwart

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Die große Erzählung vom ewigen Fortschritt

Beide Ängste sind aus unterschiedlichen Perspektiven und Selbstwahrnehmungen verständlich. Für beide großen Ängste gibt es bei unvoreingenommener Betrachtung nachvollziehbare Erklärungen – lebensweltlich erfahrbare und wissenschaftliche. Die Indizien dafür, dass die Treibhausgasemissionen zur Erwärmung der Atmosphäre und damit verbundenen Rückkopplungen führen, werden nur von einer sehr kleinen Minderheit der Klimaforscher bezweifelt. Der Rückgang der Gletscher in den Alpen ist für jeden Touristen sichtbar, das Abschmelzen des Eises in den Polarregionen unbestreitbar. Ebenso unbestreitbar sind die Risiken für weite Teile der Menschheit.

Andererseits gibt es für historisch informierte und einigermaßen fantasiebegabte Menschen nicht unbedingt gute Gründe, sich auf postnationale Zustände so uneingeschränkt zu freuen, wie das etwa die Grünen-Chefin Katrin Göring-Eckardt zu tun scheint. Schließlich sind es vor allem gescheiterte Nicht-Nationen ohne nationalen Zusammenhalt, Länder wie Syrien, Afghanistan und die afrikanischen Staaten, aus denen Millionen Menschen in die klassischen abendländischen Nationalstaaten wandern. Die Wohlstandsräume der Gegenwart sind fast ausnahmslos die im Laufe des 19. Jahrhunderts gefestigten Nationalstaaten in Europa, Nordamerika und Ostasien. Der Nationalstaat war das Gehäuse, in dem gesellschaftlicher, technischer, wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt stattfanden – neben der unbestreitbaren Blutspur des Nationalismus.

Gegen die beiden Ängste vor dem Kollaps – der Nationen oder der Natur – steht nach wie vor die große Erzählung des Westens vom ewigen Fortschritt. Wie auf der Seite der Ängste stehen sich auch auf der Seite der Optimisten zwei Lager gegenüber, die sich allerdings mittlerweile recht gut miteinander zu arrangieren scheinen: Die einen - nennen wir Sie vereinfachend die neuen Linken - erwarten von der Zukunft die Verwirklichung einer diskriminierungsfreien, multikulturellen Weltgesellschaft mit bedingungslosem Grundeinkommen für alle.

Dazu kommen die unpolitischen Eliten in Wirtschaft und anwendungsnaher Wissenschaft, für die die „Zukunft“ immer schon heute angefangen hat. Diese Prediger des stets zu erstrebenden, aber nie endgültig erreichbaren Heils der Menschheit durch ständige Innovation und Wirtschaftswachstum haben im Silicon Valley ihr neues Zion gefunden. In dieser Welt der schon heute Zukünftigen hat sich ein quasireligiöser Aberglauben an die Allheilkraft der Digitaltechnologie eingerichtet, den Max Weber vor 100 Jahren nicht mehr für möglich gehalten hätte

Gegen die Angst vor dem Klimakollaps haben die beiden Fraktionen der Fortschrittsoptimisten Rezepte anzubieten: Globale Kooperation und Technologie. Doch die Ängste vor dem Kollaps von Gesellschaft und Kultur können sie nicht kontern. Da hilft also nur: für unbegründet erklären. Dass das nicht nachhaltig funktioniert, zeigt das Aufkommen der so genannten Populisten, die wiederum in einer dummen Trotzreaktion die ökologische Angst ignorieren. Beide Ängste anzusprechen, scheint sich kaum ein Politiker der Gegenwart zuzutrauen.    

In der Geschichte der modernen Industriegesellschaften gehörten Ängste und Ahnungen des Untergangs immer zum Diskurs dazu – von Spenglers „Untergang des Abendlandes“ bis zu den "Grenzen des Wachstums" des Club of Rome. Aber als politische Kraft war die Fortschrittshoffnung bislang stets dominierend. Vermutlich ändert sich das.

Das sind die größten Ängste der Deutschen im Privatleben
Überforderung-im-Job-und-Privatleben Quelle: dpa
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Schwere-Krankheit Quelle: dpa

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