In den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten hat sich in Deutschland etwas grundlegend verändert. Nein, hier ist ausnahmsweise mal nicht von der großen Politik die Rede. Sondern von einem allmorgendlichen Phänomen, das vielleicht mehr über den Zustand dieses Landes sagt als manche Nachricht aus Bundestag oder Kanzleramt: Die Kinder, also künftige Bürger dieses Landes, gehen nicht mehr zu Fuß zur Schule.
Mütter und Väter schulpflichtiger Kinder werden das wissen und alle anderen Menschen, die morgens gegen acht Uhr an Schulen vorbeikommen auch. Da herrscht nämlich deutschlandweit allmorgendlich ein Stau von „Elterntaxis“, der umso größer ist, je wohlhabender und daher hochmotorisierter die Eltern der dort unterrichteten Schüler sind.
Der ADAC steht nicht gerade im Verdacht, Auto-feindlich zu sein. Doch seit einiger Zeit fordert selbst die älteste organisierte Interessenvertretung der deutschen Autofahrer zur Umkehr auf. Das Elterntaxi sei zwar gut gemeint aber ein Risiko. Verkehrspolizisten, die bei Informationsveranstaltungen für Eltern künftiger Grundschüler stets dabei sind, warnen ebenso: Die schlimmen Unfälle von Schulkindern passieren nicht auf dem Schulweg zu Fuß, sondern unmittelbar vor den Schulen – durch die Autos der chauffierenden Eltern!
Das Deutsche Kinderhilfswerk und der ökologische Verkehrsclub VCD prangern seit einigen Jahren schon die Elterntaxis an. Sie veranstalten zum Beginn des nächsten Schuljahres vom 18. September bis 29. September 2017 die Aktionstage „Zu Fuß zur Schule und zum Kindergarten“, um zu zeigen, „wie positiv die Auswirkungen des Laufens und Radelns sind und dass es geht – auch in der Großstadt“. Offenbar wissen das viele Eltern nicht.
Können Sie diese PISA-Aufgaben lösen?
An Manuelas Schule führt der Physiklehrer Tests durch, bei denen 100 Punkte zu erreichen sind. Manuela hat bei ihren ersten vier Physiktests durchschnittlich 60 Punkte erreicht. Beim fünften Test erreichte sie 80 Punkte. Was ist Manuelas Punktedurchschnitt in Physik nach allen fünf Tests?
a) 64 Punkte
b) 72 Punkte
c) 68 Punkte
Fünf Seiten eines Würfels von drei Zentimetern Kantenlänge werden rot angestrichen, die sechste Fläche bleibt ohne Anstrich. Wie viel Prozent der Würfeloberfläche sind rot?
a) Etwa 60 Prozent
b) Etwa 83 Prozent
Wie tief ist der Tschadsee heute?
a) Etwa 15 Meter
b) Etwa fünfzig Meter
c) Etwa zwei Meter
Wie verändert sich das Gewicht auf der Waage wenn man beim Wiegen schwungvoll in die Knie geht?
a) Es ändert sich gar nichts an der Gewichtsangabe
b) Das Gewicht wird für diesen Moment höher angezeigt
c) Das Gewicht wird kurzzeitig geringer angezeigt
Die Temperatur im Grand Canyon reicht von unter 0 Grad bis über 40 Grad. Obwohl es sich um eine Wüstengegend handelt, gibt es in einigen Felsspalten Wasser. Wie beschleunigen diese Temperaturschwankungen und das Wasser in den Felsspalten die Zersetzung des Gesteins?
a) Gefrierendes Wasser dehnt sich in Felsspalten aus
b) Gefrierendes Wasser löst warmes Gestein auf
c) Wasser kittet Gestein zusammen
Wie wirkt es sich aus, wenn Sie eine dunkle Sonnenbrille ohne UV-Schutz tragen?
a) Es gelangen mehr UV-Strahlen ins Auge als ohne Brille.
b) Es gelangen weniger UV-Strahlen ins Auge als ohne Brille.
c) Es gelangen genau so viele UV-Strahlen ins Auge wie ohne Brille.
Frage 1: a
Frage 2: b
Frage 3: c
Frage 4: c
Frage 5: a
Frage 6: a
Kinderhilfswerk und VCD haben in diesem Jahr außerdem von der Berliner Verkehrssenatorin Regine Günther gefordert, „dem wachsenden und gefährlicher werdenden Autoverkehr vor vielen Schulen entgegenzutreten.“ Denn die chauffierenden Eltern haben in Berlin immer wieder die Anweisungen von Schülerlotsen missachtet, die dafür da sind, zu Fuß zur Schule gehenden Kindern den Übergang über viel befahrene Straßen zu erleichtern.
„Die Probleme mit rücksichtslosen Autofahrerinnen und Autofahrern“, sagt Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes, die zum Abzug der Schülerlotsen vor Berliner Schulen geführt haben, müssen schnell gelöst werden.“ Wenn Appelle und Aufkläre nicht wirkten, müssten Halteverbotszonen und Tempobeschränkungen eingerichtet werden. Hofmann fordert „polizeiliche Präsenz“.
Kutschieren als Geltungsphänomen
Man muss sich das bewusst machen: Polizisten sollen Kinder schützen, und zwar vor Eltern, die diese fahren, weil sie sie – vermutlich – vor irgendetwas schützen wollen. Absurder geht’s kaum.
Irgendwann in der jüngeren Vergangenheit scheint etwas gekippt zu sein. Wer, wie der Autor, in den frühen 1980er Jahren oder davor Grundschüler war, wird sich erinnern, dass damals noch fast alle Schüler, auch Grundschüler zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kamen– meist in kleinen Grüppchen, aber oft auch alleine. Obwohl die Deutschen schon vollmotorisiert waren, war es ein höchst seltenes Privileg, von Mutter oder Vater gefahren zu werden.
Doch dann wurde offenbar das Verhalten der Minderheit zum Verhalten der Mehrheit. Wie ist das zu erklären?
Bei Eltern scheint sich in wenigen Jahrzehnten oder gar nur Jahren eine völlig übertriebene Angst um ihre Kinder ausgebreitet zu haben. Möglicherweise ist die durch das allgemein steigende Empfinden der Unsicherheit und der Furcht vor Kriminalität in jüngster Zeit noch angeheizt worden. Solche Angst ist außerdem ansteckend und selbstverstärkend: Wenn andere Schüler kutschiert werden, weil deren Eltern um das Wohl der Kinder zwischen Haus und Schule fürchten, bekommen nicht kutschierende Eltern leicht ein schlechtes Gewissen.
Oder ist das Elterntaxi einfach nur ein Nachahmungsphänomen? Soziologen würden das der „Theorie der feinen Leute“ von Thorstein Veblen entsprechend so erklären: Früher kutschierten nur die Reichen ihre Kinder, sei es aus sozialem Dünkel oder um sie vor Entführungen zu schützen. Weil nun aber die Konsumgewohnheiten und Sitten der „feinen Leute“ bekanntermaßen Vorbildcharakter für die nicht ganz so feinen Leute haben, folgen ihnen allmählich die anderen Eltern, um zu signalisieren, dass sie ebenfalls zu den Bessergestellten gehören. Irgendwann in den vergangenen Jahren war dann vermutlich in vielen Schul-Elternschaften eine Situation erreicht, dass diejenigen, die ihre Kinder weiterhin einfach laufen ließen, sich fast wie Asoziale fühlen mussten.
Vermutlich passen beide Erklärungen ganz gut zusammen: Die Kinder zur Schule zu fahren, dürfte ein „Geltungskonsum“ sein, der durch das Gefühl, sie dabei vor den Gefahren des Schulwegs zu schützen, zusätzlich noch mit einem guten Gewissen angereichert werden kann. Nur die Kinder, um die es eigentlich gehen sollte, haben gar nichts davon.
Sie werden um all die kleinen Abenteuer, Erlebnisse und Beobachtungen gebracht, die der althergebrachte Schulweg zu bieten hatte. Sie verlieren aber auch die Selbstsicherheit, die man – eigentlich banal, aber offenbar nicht selbstverständlich – nur durch selbstständig zurückgelegte Wege erlangt.