Knauß kontert

Es geht um die Kultur, Dummkopf!

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Eine skurrile Aktion gegen die Nürnberger Stadtmauer zeigt exemplarisch: Die wichtigsten Fragen der Zeit sind kultureller, nicht nur ökonomischer Natur. In der Politik fehlt dafür das Verständnis.

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Nürnberg ist die einzige deutsche Großstadt, die noch eine fast vollständige mittelalterliche Stadtmauer besitzt. Doch die soll jetzt endlich „weg“, fordert ein örtliches Bündnis von Kulturaktivisten. Denn sie stehe, wie es auf der Website des Bündnisses „Noris ohne Mauer“  heißt, für „Engstirnigkeit“. Diese habe „viele KünstlerInnen … dazu veranlasst, Nürnberg zu verlassen.“

Über die Grenzen von Mittelfranken ist die satirische Aktion bisher medial nicht hinausgekommen. Aber die Kunstaktivisten von Nürnberg haben die Zeichen der Zeit erkannt: Sie haben die wohl entscheidende Konfliktlinie der Gegenwart auch außerhalb der ehemaligen freien Reichsstadt identifiziert: nämlich die kulturelle Rolle von Begrenzungen.

Es geht in der zunehmend „multikulturellen“ Gesellschaft zunehmend um kulturelle Fragen. Sie werden von manchen erwartungsfroh und von anderen mit Angst gestellt. Was ist (unsere) Kultur? Wer oder was sind also „wir“? Wer gehört dazu und wer nicht? Muss (unsere) Kultur beschützt oder noch weiter geöffnet werden? Und wenn ja, wie?

Die Kulturaktivisten des Bündnisses

Oder sind all diese Fragen falsch und überflüssig, weil, wie die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoğuz kürzlich behauptete, „eine spezifisch deutsche Kultur, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar“ sei? Aber selbst wenn das zutreffend wäre, würde es nichts an der Feststellung ändern, dass ein großer Teil der Deutschen (und ein noch größerer Teil der meisten anderen Nationen) unter dem Phantomschmerz eines angeblich nicht identifizierbaren Verlusts leidet.

In einer durch und durch befriedeten, den historischen Wurzeln entwachsenen, „offenen“ Gesellschaft wie der unsrigen, wird Kultur vor allem als Ergebnis von Dialog, Begegnung und Hybridisierung dargestellt. Das ist richtig und unbestreitbar, aber eben nur ein Teil der Wahrheit. Zur historischen Wirklichkeit gehört auch die dunkle Bedingung jeder Kultur: die Notwendigkeit der Abgrenzung und des Schutzes vor Gefahren. Wo immer Zeugnisse historischer Kulturen sich offenbaren, ob in China, im Vorderen Orient oder im alten Europa, stets gehören dazu auch Wälle und Mauern.

Erst wenn die äußeren Gefahren beseitigt waren (oder schienen), verzichtete man darauf allmählich. Die Stadtmauer von Nürnberg ist deswegen kein Zeichen historischer Engstirnigkeit, sondern sie war jahrhundertelang die Bedingung dafür, dass hinter ihr sowohl der materielle Wohlstand (durch Handel mit Italien und dem Vorderen Orient) als auch die Künste (Albrecht Dürer, Hans Sachs) ungestört florieren konnten.

Die große Mehrheit der Politiker in den Landeshauptstädten und Berlin hat die zentrale Bedeutung dieser Fragen nach Kultur und Identität noch nicht begriffen – oder geht darauf zumindest nicht ein. Sie betrachten ihren Job weiterhin wie ihre Ziehväter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ökonomisch motivierte Aufgabe. Wenn eines die deutschen Wahlkämpfe des Jahres 2017 kennzeichnet, dann ist es der Versuch der Parteien, sich auf bekanntem Terrain mit erprobten Waffen gegen die alten Feinde zu schlagen.

Es soll um ökonomische Fragen gehen, um Arbeitsplätze, Steuern, Wachstum. Und auch da, wo es um Sicherheit und Bildung geht, werden diese letztlich mit denselben, alt hergebrachten Maßstäben betrachtet: nämlich denen der Statistik. Erfolg lässt sich demnach mit Zahlen und in Ranglisten belegen. Laschet will als Ministerpräsident NRW wieder „nach vorne“ bringen im Vergleich mit anderen Bundesländern. Er will also gute Zahlen liefern – wie ein Manager.

Krise der Demokratie

Das ist der Maßstab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damals war man vernünftigerweise nach der Weltwirtschaftskrise und den beiden Weltkriegen zu dem Schluss gekommen, dass Politik vor allem eine Aufgabe habe: für Wirtschaftswachstum zu sorgen. Durch allgemeine Wohlstandssteigerung ließen sich materielle Nöte lindern und soziale Konflikte entschärfen.

Gleichzeitig hatten sich in der Wirtschaftswissenschaft das Zählen und Rechnen als allein akzeptierte Methode durchgesetzt. Nicht mehr die reine Erkenntnis war das Ziel, sondern politisch umsetzbare Kompetenzgewinnung. Und Politiker setzten um, was kompetente Ökonomen ihnen rieten - ob Ordoliberale, Keynesianer oder Angebotstheoretiker. Das funktionierte einige Jahrzehnte lang sehr gut.

So viel geben die Länder für Theater und Musik aus

Nun, im frühen 21. Jahrhundert, stehen wir aber zumindest in Deutschland und im Westen vor neuen Problemen, die nicht ökonomisch zu lösen sind. Nicht materielle Not ist die größte Sorge der Unzufriedenen, sondern das Empfinden des Verlusts von kultureller Verankerung ("Heimat") einerseits und die Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen andererseits. Die beiden existentiellen Fragen der Zeit sind die nach der Begrenztheit der Natur und nach den Grenzen der Gemeinwesen. Es sind kulturelle Fragen, bei denen es nicht ums Zählen und Rechnen geht. Sie lassen sich nicht durch Wirtschaftspolitik lösen. Im Gegenteil, beide werden durch wirtschaftliche Dynamik sogar verschärft.

Die herkömmlichen Funktionseliten haben dafür keine Antenne. Auf die Unruhe, Angst und Gärung, die diese Verlustangst auslöst, geben sie wie derzeit Macron in Frankreich die alte ökonomische Antwort: Investitionen, im Zweifel schuldenfinanziert.

Zu Kultur fällt den meisten Politikern wenig bis nichts ein. Mit Kulturpolitik ist auch keine Parteikarriere zu machen. Wenn etwa im Wahlprogramm der NRW-CDU von Kultur die Rede ist, dann geht es oft um „eine neue Kultur für Innovation, Forschung und Entwicklung“ oder eine „Stipendienkultur“, an anderer Stelle ist von „Kleingärten“ als „ein Stück nordrhein-westfälischer Kultur“ die Rede. Wo die „gemeinsame Leitkultur“ definiert wird, listet die CDU lauter Verbote auf („Rassismus… nicht durch Meinungsfreiheit gedeckt“, „Existenzrecht Israels nicht verhandelbar“, „Auseinandersetzungen in den Heimatländern vieler Migranten [dürfen] nicht auf unseren Straßen ausgetragen werden“).

Die einzige positive Standartantwort zu unserer Kultur ist meist: das „Grundgesetz“. Habermas‘ „Verfassungspatriotismus“, so ein weitgehender Konsens, soll den Deutschen ebenso wie den Zugewanderten als kulturelle Heimat genügen. Bestenfalls wie im NRW-CDU-Programm mit kurzem Hinweis auf „christlich-jüdisch-abendländische Wurzeln“ und die „Werte der Aufklärung“ garniert. Aber kann und soll ein Rechtskodex wirklich die Inkarnation der deutschen Kultur sein?

Der Unwille oder eher: die offensichtliche Unfähigkeit der politischen Klasse, zu Kulturfragen anderes als Sprechblasen und Ausflüchte zu fabrizieren, ist wohl die eigentliche, tiefere Krise der Parteiendemokratie. Die Präsidentenwahlen in Frankreich haben gezeigt, wie es etablierten Parteien ergeht, die auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse keine Antworten finden. Dann suchen sich die Bürger ihre Antworten anderswo.

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