Knauß kontert

Das Wohlstandsversprechen zieht nicht mehr

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Es geht um Macht

Der CDU-Vordenker Kurt Biedenkopf sieht den Westen in einer Entgrenzungskrise. Ein Gespräch über die Knechtschaft des Wirtschaftswachstums, die Vernunft des Gottesglaubens und allzu empathische Politik.
von Ferdinand Knauß

Könnte es sein, dass Wohlstand und dessen Wachstum im 60. Jahr nach Erscheinen von Ludwig Erhards Klassiker „Wohlstand für Alle“ ganz einfach nicht mehr die entscheidende politische Kategorie ist? Könnte es sein, dass der politische Betrieb das nur noch nicht richtig realisiert? Hat man sich in den Jahrzehnten nach dem mörderischsten und zerstörerischsten Krieg der Weltgeschichte so sehr auf die Schaffung von Wohlstand fokussiert, bis man nicht mehr in der Lage war, zu erkennen, dass das Ziel erreicht ist? Der kluge Erhard selbst übrigens hat dies nicht getan. Sein Widerwille gegen eine forcierte, schuldenfinanzierte Wachstumspolitik war der Grund für seinen Sturz 1966.

Wie die meisten großen (Wirtschafts-)Denker, die noch in der ersten, kriegerischen Hälfte des 20. Jahrhunderts aufwuchsen, war für Erhard die Schaffung von Wohlstand durch Wirtschaftswachstum nie ein Selbstzweck, sondern dazu da, „die Grundlage für jedes höhere Streben und die Erfüllung geistig-seelischer Anliegen zu gewinnen. Erst wenn die materielle Basis der Menschen geordnet ist, werden diese selbst frei und reif für ein höheres Tun.“  

So etwas würde man von heutigen Spitzenpolitikern wohl kaum lesen. So sehr haben sich die Politikergenerationen nach 1945 daran gewöhnt, gute Politik mit wachsenden BIP-Zahlen gleichzusetzen, dass es Ihnen sichtlich schwerfällt, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass die Deutschen der Gegenwart davon gar nicht mehr sonderlich beeindruckt sind. Zumal die große Mehrheit von Ihnen als Lohnempfänger ohnehin nur wenig vom Wachstum profitiert.

Grundsätzliche Fragen werden im parteipolitischen Betrieb kaum diskutiert. Wirtschaftswachstum zum Beispiel ist, wie eine Studie zeigt, für Bundestagsabgeordnete ein Dogma.
von Ferdinand Knauß

Der Wunsch nach materiellem Wohlstand im Sinne Ludwig Erhards – „die Menschen aus materieller Not und Enge zu befreien“ – ist eben längst nicht mehr die Antriebskraft der Wachstumswirtschaft. In den Volkswirtschaften der frühindustrialisierten Länder geht es bekanntlich nicht mehr darum, vorhandene Bedürfnisse von Konsumenten zu stillen. Knappheit ist nur noch in den verstaubten Modellen und Theorien der Ökonomen ein Problem. Im Gegenteil: Es geht darum, immer neue Bedürfnisse der mit Gütern vollgestopften Konsumenten zu erzeugen.

Die treibende Kraft in der heutigen Wachstumswirtschaft sind die Produzenten. Und deren Motiv ist nicht Wohlstand. Denn ein materiell extrem gut ausgestattetes Leben ist für die Entscheider längst Wirklichkeit. Im SUV kann man nur fahren, auf der Rolex kann man nur die Uhrzeit ablesen und im Marmorbad kann man sich auch nur waschen.

Was die Macher antreibt, ist der Wunsch nach Erfolg, nach Renommee, nach Status und nach Macht natürlich. Wirtschaft ist das bei weitem wichtigste, fast das einzige Spielfeld für den Willen zur Macht geworden. Das ist übrigens vielleicht der wichtigste Grund dafür, dass unsere postheroischen durch und durch ökonomisierten Gesellschaften so friedlich sind: Da es keinen anderen Ruhm mehr als Geldgewinn und keine andere Ehre als ökonomischen Erfolg gibt, konzentrieren sich Ehrgeiz, Aggression und Machthunger auf die Wirtschaft.

„Wohlstand für Alle“ ist in der deutschen Gesellschaft seit Jahrzehnten verwirklicht. Weiteres Wirtschaftswachstum schafft im Gegensatz zu Ludwig Erhards Zeiten heute kaum mehr Wohlstand, sondern erhöht den Reichtum und die Macht der ohnehin schon Reichen und Mächtigen. Auch das wollen amtliche Statistiken zwar gerne widerlegen, aber die Bürger spüren die Spreizung zwischen den Durchschnittlichen und dem wachsenden Reichtum der Reichen doch allzu deutlich in ihrer Lebenswirklichkeit.

Wer Wohlstand genießt, und ahnt, dass der nicht mehr sonderlich zu steigern ist, fürchtet um so mehr seinen Verlust. Die Leute wollen darum von ihrer demokratischen Obrigkeit nicht hören, wie toll es ihnen geht, sondern wie diese verhindern, dass es ihnen bald nicht mehr so toll geht. Anders formuliert: Statt Wohlstandssteigerung wie in der Nachkriegszeit wird das Bedürfnis nach Schutz vor immer offensichtlicheren Gefahren zur (wahl)entscheidenden politischen Kategorie. Das ist die erste und ursprünglichste Aufgabe des Staates. Darauf sind die in ruhigen Zeiten konditionierten Spitzenpolitiker der Gegenwart allerdings nicht spezialisiert. Dementsprechend wenig überzeugend wirkt das Angebot der Regierenden.

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