Knauß kontert

Das Ende der Solidarität

Seite 2/2

Lauter kleine Solidargemeinschaften

Wo es Solidarität geben soll, wo einer für den anderen zu opfern bereit sein soll, da muss es immer ein „wir“ geben – die „Gesinnung einer Gemeinschaft mit starker innerer Verbundenheit“, wie das der Soziologe Alfred Vierkandt nennt.

In der großen abstrakten Solidargemeinschaft, in der man diejenigen, die zum „wir“ gehören, nicht mehr persönlich kennt, sind die Vorgänge des Hilfe Gebens und des Nehmens notwendigerweise durch Bürokratie entfremdet. Umso wichtiger ist Klarheit darüber, wer „wir“ sind. Die größte und politisch wichtigste Solidargemeinschaft war – bis vor einiger Zeit relativ unangefochten - die Nation.

Dass die so genannte Globalisierung, also der Bedeutungsverlust des Nationalstaats das Prinzip der Solidarität grundlegend in Frage stellt, ist eines der großen Tabus der gegenwärtigen Politik. Die Linke vernebelt das Dilemma mithilfe ihres alten Topos von der „internationalen Solidarität“ – und der Rest des politischen Spektrums lässt sich davon mangels eigener Lösungen mitziehen. In Deutschland ist das ganz besonders verführerisch, da hierzulande die Flucht aus der Nation als Lehre aus der eigenen unheilvollen Geschichte verstanden wird.

Also verschwimmen heute in der politischen Kommunikation die Konturen des Solidaritätsbegriffs. „Internationale Solidarität“ wird – mangels internationaler Solidargemeinschaft – immer mehr zu einer Pflicht zur Barmherzigkeit, also einseitiger Hilfe, uminterpretiert. Man ignoriert, dass Solidarität keine einseitig gewährte Gnade ist, sondern ein System der Gegenseitigkeit: das Recht zu nehmen ist an die Pflicht zu geben gekoppelt. Dass ein solches System nicht funktionieren kann, wenn  jeder Außenstehende zum Empfänger werden kann, ohne zuvor zumindest auch ein potenzieller Geber zu werden, liegt auf der Hand. Eigentlich. Doch die Schieflage wird durch das Pathos der „Willkommenskultur“ und die allgemeine Begeisterung über die neue Grenzenlosigkeit vernebelt. Und so glaubt man Solidarität zu üben, wenn man bedingungslos Segnungen des Sozialstaates an Einwanderer verteilt.

Angesichts solcher Widersprüchlichkeiten ist es kein Wunder, dass immer mehr Menschen den Überblick verlieren. Wer ist nun das „wir“, innerhalb dessen alle für einen und einer für alle da sein soll? Deutschland? Nein, das ist vorbei, vermitteln die politischen Eliten im Zeitalter der Globalisierung. Aber eine realistische Alternative als Solidargemeinschaft ist nicht in Sicht. Und so droht sich das Bewusstsein für die Solidarität hinter der Fassade der ausufernden Hilfsleistungen des Sozialstaates aufzulösen.

Und was bleibt stattdessen? Wenn das Vertrauen in große Solidargemeinschaften schwindet, bietet sich der Rückzug auf bewährte, überschaubare Solidargemeinschaften an, deren Grenzen eindeutig und gut gesichert sind. Der Aufstieg von Spartengewerkschaften wie der Pilotenvereinigung „Cockpit“ oder der ebenso berüchtigten Gewerkschaft der Lokomotivführer“  ist vielleicht ein Menetekel dafür, was noch bevorsteht: verschärfte Verteilungskonflikte zwischen lauter kleinen Solidargemeinschaften.    

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%