Knauß kontert

Die offene Gesellschaft und ihre (falschen) Freunde

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Offene Feinde und falsche Freunde

Die Historizisten und damit Feinde der offenen Gesellschaft, die Karl Popper seinerzeit vor Augen hatte, sind noch zu seinen Lebzeiten – er starb 1994 – weitgehend von der politischen Bühne verschwunden oder entfernt worden. Der Faschismus, geschweige denn Nationalsozialismus, führt derzeit nur noch in den Köpfen hyperaktiver „Antifaschisten“ ein Gespensterdasein. Der Kommunismus leninscher Art wird nur noch in letzten Exklaven zum Schaden von deren Bewohnern praktiziert.

Einige politische Denker, Samuel Huntington und Ralf Dahrendorf äußerten schon wenige Jahre nach dem scheinbaren großen Sieg der offenen Gesellschaft von 1989 Sorgen um deren langfristige Überlebensfähigkeit. Freiheitliche Gesellschaftsordnungen beruhen auf kulturellen Grundlagen, die  sie nicht aus sich selbst garantieren können. Auch Popper sah die offene Gesellschaft nicht als einen Zustand, der erreicht wird und dann einfach für immer bewahrt werden kann. Das wäre schließlich selbst ein historizistischer Glauben. Der Kampf um die offene Gesellschaft endet nie.

Historizisten sind schließlich auch nach dem Niedergang der großen europäischen Ideologien des 20. Jahrhunderts nicht ausgestorben. In erster Linie sind da die bekennenden und leicht erkennbaren Feinde der offenen Gesellschaft: Islamismus ist schließlich nichts anderes als das Verfolgen der göttlichen also unbezweifelbaren Aufgabe, die Herrschaft Allahs auf Erden zu verwirklichen. Historizistischer geht’s kaum.

Aber bei genauerem Hinsehen erkennt man den historizistischen Glauben auch genau unter denen, die sich selbst zu großen Verteidigern der offenen Gesellschaft erklären. Die Vorstellung von der „Alternativlosigkeit“ einer Politik ist nichts anderes als Historizismus. Da versucht eine (politische) Klasse mit mächtigen Individuen an der Spitze den Menschen in paternalistischer Weise weiszumachen, dass man wisse, was gut für das Gemeinwesen ist, und eine Korrektur des eingeschlagenen Pfades nicht möglich sei. Zur Begründung müssen dann oft Begriffe wie "Globalisierung" herhalten, die ebenso unaufhaltsam wie ein Naturphänomen erscheinen.

Ein historizistisches Ziel in gegenwärtigen, sich für offen haltenden Gesellschaften, ist nicht zuletzt das Wirtschaftswachstum. Das BIP hat zu steigen, weil die praktischen Historizisten in Politik und Finanzwelt und die theoretischen Historizisten in den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten am Glauben an die Heilswirkung ewigen Geldsegens festhalten – obwohl die große Mehrheit der Menschen in den frühindustrialisierten Staaten vom Wachstum materiell nicht profitiert, sondern psychisch darunter leidet, und die natürlichen Lebensgrundlagen dafür geopfert werden. Eine auf die Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum konditionierte Gesellschaft ist zumindest in ökonomischer Hinsicht eine geschlossene Gesellschaft.

Im Maastrichter Vertrag ist ein anderes historizistisches Ziel  sogar schwarz auf weiß vorgegeben: das Ziel ist eine „immer engere Union“.  Im Englischen – „ever closer union“ – wird der Widerspruch zu einer „open society“ schon sprachlich deutlich. In Brüssel lässt man also die Zukunft gerade nicht offen, sondern versucht sie in einer zentralen politischen Frage festzuschreiben.

Die die „offene Gesellschaft“ mit Herzblut zu verteidigen vorgeben, müssen also nicht wirklich ihre größten Freunde sein. Das vorgeblich offene, kann selbst ein geschlossenes, für kritischen Diskurs unzugängliches, historizistisches System werden. Die offene Gesellschaft ist also nicht nur von ihren Feinden bedroht, sondern auch durch ihre falschen Freunde.

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