Knauß kontert

Die Illusionen der Bertelsmann-Schüler-Studie

Seite 2/2

Sozialpädagogik ersetzt Bildung

In einer Stellungnahme des VBE heißt es: „Zugleich wachsen die Erziehungsaufgaben.“ Auch das ist euphemistisch. Lehrer sind schon jetzt in vielen, nicht nur so genannten Brennpunktschulen, weniger mit Bildung als eher mit Sozialpädagogik befasst.

Zeitgleich mit der Zunahme von Kindern ohne deutsche Muttersprache kehrten sich die Bildungssysteme aller deutschen Bundesländer seit einigen Jahren mit tatkräftiger Unterstützung der Bertelsmann-Stiftung von der Wissensvermittlung ab, um sie durch eine vermeintlich dem Arbeitsmarkt zugute kommende „Kompetenzorientierung“ zu ersetzen. Die jungen Menschen sollen alles können, was das Arbeits- und Alltagsleben angeblich erfordert, und nichts mehr wissen müssen. Das Wissen veralte schließlich ohnehin im Eiltempo und der aktuelle Stand sei mit ein paar Mausklicks nachlesbar.

Die Ausbildungsbetriebe und Universitäten klagen schon jetzt über eklatante Schwächen bei grundlegenden Fähigkeiten in Mathematik und Kenntnissen der Naturwissenschaften. Von Rechtschreibung gar nicht zu reden. Und althergebrachte humboldtsche Bildungsinhalte, etwa Literatur oder Geschichte betreffend, sind ohnehin auf dem Rückzug.

Solche qualitativen Aspekte des Bildungssystems spielen – wie bei Bertelsmann üblich – auch in der aktuellen Studie keine Rolle. Für die Studienautoren gibt es nur Schüler- und Lehrerzahlen. Amorphe Menschenmengen, die die Politik zu managen habe.

von Marc Etzold, Konrad Fischer, Lin Freitag

Der Niveauverlust in allen Schul- und Hochschulformen, der hinter dem Schleier einer galoppierenden Noteninflation stattfindet, dürfte sich also fortsetzen und vielleicht sogar beschleunigen. Das ist keine Frage der Intelligenz der künftigen Schüler und der Fähigkeiten der Lehrer. Kein noch so gut ausgebildeter und engagierter Lehrer kann mehreren Kindern pro Klasse aus bildungsfernen und nicht deutsch sprechenden Herkunftsfamilien gleichzeitig deutsch beibringen, sie „erziehen“ und Bildungsinhalte auf einem hergebrachten Niveau vermitteln. Man wird die Ansprüche zurücknehmen (müssen). In der Schulpraxis geschieht das längst.

Viele Eltern der von Bertelsmann prognostizierten Schulkinder leben derzeit gar nicht in Deutschland. Die Gütersloher Autoren rechnen aber fest damit, dass sie kommen. Ihre Vorausberechnungen der Zuwanderung beruhen, das ging in der Berichterstattung völlig unter, genauso auf Zukunftsschätzungen wie die der Kultusministerkonferenz, die angeblich zu gering sind.

Die demografische Zukunft der Wohnbevölkerung kann aufgrund der trägen Veränderung durchschnittlicher Geburtenraten relativ gut vorausberechnet werden. Diese Entwicklung ist auch nicht kurzfristig durch Politik zu beeinflussen, wie deutsche Familienpolitiker in der jüngeren Vergangenheit immer wieder feststellen mussten.

Anderes gilt für die Einwanderung. Sie ist kein unpolitisches Schicksal. Jeder Staat kann, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist, Zuwanderung begrenzen, weitgehend  unterbinden oder durch Anreize und Hürden bestimmte (zum Beispiel gebildete) Einwanderer auswählen. Zumindest sieht man dies jenseits der deutschen Grenzen in vernünftig regierten Einwanderungsländern so.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%