Kurt Schumacher ist einer der meistzitierten Politikerhelden der Deutschen: "Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit". Interessanterweise wird sein Satz besonders häufig von CDU-Politikern genannt (zumindest legen das die Ergebnisse bei der Google-Suche nahe). Von Volker Kauder zum Beispiel. Und zwar mit Vorliebe dann, wenn es gilt, die 180-Grad-Kurswechsel seiner Chefin Angela Merkel zu rechtfertigen. Diese Kaudersche Wirklichkeit, also die aktuelle Gefühlslage der Wähler und darauf basierende Machterhaltungsoptionen, ist aber wohl kaum die, die der alte Schmerzensmann der SPD im Sinne hatte.
Zur politischen Wirklichkeit gehörten für Politiker vom Schlage Schumachers auch unveränderliche Überzeugungen und Interessen, für die es zu kämpfen galt. Er saß dafür jahrelang im KZ.
Solch eine Politik nach Schumachers Maßstab ist in Deutschland und auch anderen Teilen Europas selten geworden. Statt die Wirklichkeit zu betrachten und daraus politisches Handeln abzuleiten, verlegen weite Teile der Regierenden und Opponierenden all ihre Kraft in das Gegenteil: nämlich in Schein, Traum, Fantasie und andere Emanationen der menschlichen Fähigkeit zur Verleugnung einer unangenehmen Wirklichkeit. Man könnte von einer Everly-Brothers-Strategie sprechen: „All I have to do is dream “. Für unglücklich Verliebte mag der Rat der romantischen Sänger-Brüder aus Kentucky eine Lösung sein. Für politische Gemeinschaften ist er fatal. Erst Recht, wenn Wähler und ihre Repräsentanten zugleich träumen.
Die Wirklichkeit sind zum Beispiel explodierende Sozialkosten – und das trotz boomender Wirtschaft. Wer glaubt, dass diese brisante Entwicklung eine öffentliche und politische Diskussion zur Folge haben müsste, sieht sich getäuscht. Keine Partei will das dem Wähler zumuten. Und weil sich alle einig sind, gibt es diese Diskussion nicht. Gemäß der Kaudersch-Merkelschen Vorstellung von Wirklichkeit ist das Problem damit gelöst.
Ganz besonders fest geschlossen hält man die Augen angesichts der Gründe für diese Kosten: es ist die Einwanderung. Das verträumteste aller Politikfelder nicht nur aber ganz besonders in Deutschland. Zur Wirklichkeit gehören hier neben den exorbitant steigenden Kosten für die Versorgung der Einwandernden auch eine Welle von Hunderttausenden Asylverfahren und das groteske Missverhältnis zwischen den rund 12.000 tatsächlich Abgeschobenen und den rund 20 Mal so zahlreichen „Ausreisepflichtigen“ des ersten Halbjahres 2017.
Asylanträge nach Bundesländern 2017
Nirgendwo sonst wurden so vielen Asylanträge gestellt wie in Nordrhein-Westfalen. In der ersten Jahreshälfte 2017 waren es bisher 32.122 Menschen.
Hinweis: Alle Daten beziehen sich auf Erst- und Folgeanträge in den Monaten Januar bis Juni 2017.
Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge / Statista
Stand: August 2017
12.921 Menschen haben in der ersten Hälfte des Jahres 2017 in Bayern einen Asylantrag gestellt.
In Baden-Württemberg wurden 2017 bisher 11.290 Asylanträge gestellt.
In Niedersachsen stellten 10.003 Menschen im Januar bis Juni 2017 einen Antrag auf Asyl.
In Rheinland-Pfalz beantragten 2017 bislang 7.610 Menschen Asyl.
In Hessen stellten in den ersten sechs Monaten 2017 7.508 Bewerber einen Asylantrag.
In Berlin wurden von Januar bis Juni 2017 5.535 Anträge auf Asyl gestellt.
Bis Mitte 2017 stellten 4.205 Menschen einen Asylantrag in Sachsen.
3.346 Asylanträge verzeichnet Schleswig-Holstein für die ersten sechs Monate 2017.
Einen Asylantrag in Sachsen-Anhalt stellten bis Juni 2017 3.304 Menschen.
Asyl in Brandenburg beantragten in der ersten Jahreshälfte 3.162 Menschen.
In Thüringen wurden in den Monaten Januar bis Juni 2017 3.049 Asylanträge gestellt.
In Hamburg stellten bis Ende Juni 2017 2.633 Menschen einen Antrag auf Asyl.
In Mecklenburg-Vorpommern stellten 2.104 Menschen einen Asylantrag (Januar bis juni 2017).
Bis Juni 2017 stellten im Saarland 1.538 Menschen einen Asylantrag.
In Bremen beantragten bis Ende Juni 1.192 Menschen Asyl.
Bei 94 Asylanträgen bis Mitte 2017 ist das Bundesland, in dem der Antrag gestellt wurde, anscheinend unbekannt.
Es ist offensichtlich, dass die übergroße Mehrheit der vor Gerichten um Asyl Klagenden in Wirklichkeit Einwanderer auf der Suche nach Wohlstand sind. Jeder weiß das: die Bewerber, die Richter, die Politiker, ihre Wähler. Nicht zuletzt auch die von der Asyl-Klagewelle lebenden Rechtsanwälte. Aber alle haben sich eingerichtet in der Fantasiewelt des „Asyls“, die so viel schöner und moralisch reiner ist als die von ökonomischen und anderen Fakten geprägte Zuwanderungswirklichkeit.
Deren Betrachtung begänne vernünftigerweise mit dem klaren Blick auf die Interessen: Die Suche vergleichsweise armer Menschen nach Wohlstand ist ein ökonomisches, rationales Interesse, das man weder moralisch verurteilen, noch moralisierend überhöhen sollte. Ebenso wenig moralisch zu bewerten wäre das ebenso rationale Interesse der Zielländer, ihre sozialen Sicherungssysteme, die notwendigerweise auf Dauer nur in begrenzten Solidargemeinschaften bestehen können, vor der Überforderung durch Ansprüche von außerhalb zu bewahren.
Handeln erscheint den Regierenden offenbar zu riskant
Für jeden nicht träumenden Betrachter ist unverkennbar, dass sich im Mittelmeer gerade eine Situation entwickelt, die die so genannte Flüchtlingskrise von 2015 an Dramatik noch übertreffen könnte. Doch wie damals verschließen die Akteure in Deutschland und Europa auch jetzt wieder die Augen vor der Wirklichkeit und setzen auf die Everly-Brothers-Strategie. Merkel, Regierungschefin im Land der moralischen Musterschüler, liefert dazu noch ein paar einlullende Traumbotschaften: Vollbeschäftigung für Deutschland und „Fluchtursachenbekämpfung“ durch „Wohlstand für alle“.
Hauptsache, man ist nicht zu unangenehmen Schlussfolgerungen und zum Handeln gezwungen. Denn Handeln (nicht zu verwechseln mit dem Ausgeben des Geldes der Steuerzahler!) erscheint den Regierenden offenbar allzu riskant.
Also bestimmen immer noch moralische Urteile und nicht politisches Handeln die Einwanderungspolitik Deutschlands. Da es sich durch willkommenskulturelle Streberei zum mit Abstand attraktivsten Ziel der Armutszuwanderung gemacht hat, können die meisten anderen EU-Staaten moralisierendes Offenheitspathos und ökonomisches Eigeninteresse einigermaßen vereinbaren – die Migranten wollen ja ohnehin kaum zu ihnen. Aber Deutschland als Hauptzielland kann das nicht.
Politische Träume unterscheidet von der Wirklichkeit vor allem eines: Sie enden unweigerlich mit dem Erwachen und dann führt kein Weg daran vorbei, endlich die Wirklichkeit zu akzeptieren: Zu der gehört die Erkenntnis, dass die Massenzuwanderung aus Afrika nicht durch vordergründige Solidaritätslyrik und hintergründiges Geschacher mit Verteilungsquoten zu handhaben ist. Erstens werden sich die Migranten, die in unattraktive Länder geschickt werden, sich ohnehin nicht daran halten (und deren Verwaltungen werden wenig Interesse zeigen, sie dazu zu zwingen).
Vor allem aber entfaltet gerade ein perfektioniertes Empfangsmanagement eine zusätzliche Sogwirkung und lässt den Zustrom eher noch anwachsen – das zeigte die so genannte Flüchtlingskrise von 2015.
Wie ein an der Wirklichkeit und legitimen Interessen orientiertes Handeln in der Migrationsfrage funktioniert, haben Spanien und Australien vorgemacht: Aus Seenot gerettete Einwanderungswillige nicht mit NGO-Schiffen ins Zielland bringen, sondern in gesicherte Orte außerhalb der EU. Merkel mag sich bewusst machen, dass die dadurch entstehenden „hässlichen Bilder“, die sie mehr als alles andere fürchtet, gar nicht so wehtaten – und die Wirkung sofort einsetzte.