Koalitionsvertrag ohne Wert Die große (Ent-)Täuschung

Der schwarz-rote Koalitionsvertrag ist ein Vertrag der Vorbehalte – trotz vieler Versprechungen. Offenbar geht Ungewissheit vor Verlässlichkeit. Vieles ist vage formuliert oder abenteuerlich finanziert, sagen Experten.

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Die Drei und der Koalitionsvertrag: Sigmar Gabriel (l-r), Angela Merkel und Horst Seehofer. Quelle: dpa

Berlin Ein Koalitionsvertrag bestimmt das Regierungshandeln für eine Legislaturperiode. Die Bürger sollten sich allerdings nicht zu viel von Union und SPD erhoffen. Denn wenn die rund 475.000 Mitglieder der Sozialdemokraten den Weg für die Große Koalition frei machen, dann dürfte sich schnell so manche Hoffnung in Luft auflösen. Die Projekte, die sich die Koalitionspartner in spe vorgenommen haben, sind zwar aller Ehren wert. Doch Papier ist geduldig. Und nichts von dem, was darauf steht, muss sich auch wirklich in praktischer Politik niederschlagen.

„Koalitionsverträge sind nichts weiter als Verträge zwischen Parteien, in denen Absichtserklärungen abgegeben werden“, bringt der Vize-Vorsitzende der CSU, Peter Gauweiler, die bittere Wahrheit im Gespräch mit dem Handelsblatt auf den Punkt. „Von ihrem Charakter her stellen sie damit nicht mehr als Empfehlungen an die Abgeordneten dar.“ Denn die hätten am Ende darüber zu entscheiden, ob die Vorhaben aus einem Koalitionsvertrag auch umgesetzt werden.

So klar hat in den letzten Wochen kein Politiker die Wertlosigkeit des schwarz-roten Koalitionsvertrags beschrieben. Das mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Bundesvorsitzenden von CDU, CSU und SPD, Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel, das 185-Seiten-Werk zwar schon unterschrieben haben, aber angesichts des noch ausstehenden SPD-Basisvotums noch nicht abschließend geklärt ist, ob die Große Koalition (GroKo) tatsächlich ihre Regierungsbildung abschließen darf. In der SPD-Führung wächst jedoch nach der bisherigen Resonanz an der Basis die Zuversicht auf eine Zustimmung der Mitglieder zur GroKo. Schwarz-Rot scheint so gut wie sicher zu sein.

Experten, wie der Präsident des Steuerzahlerbunds, Reiner Holznagel, oder der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider, sehen vor diesem Hintergrund das, was auf die Bürger zukommt beziehungsweise eben doch nicht kommt, weil sich diverse Ankündigungen als Trugschluss erweisen könnten, mit großer Sorge. Hintergrund ist, dass alles, außer den sogenannten prioritären Maßnahmen, unter Finanzierungsvorbehalt steht. Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) hat am Wochenende noch einen Beschäftigungsvorbehalt hinzugefügt. Das dürfte vor allem auf den SPD-Mindestlohn bezogen sein.

Die Mehrausgaben für die „prioritären Maßnahmen“ sollen 23 Milliarden Euro betragen. Doch die Milliarden-Ausgaben für Verbesserungen in der Rentenversicherung und der Pflegeversicherung sind in dieser Prioritätenliste noch nicht einmal enthalten. Allein in der Rentenversicherung summieren sich die Pläne auf 20 Milliarden Euro. Laut Kanzlerin Merkel ist alles „sorgsam durchgerechnet“. Ab 2015 will der Bund sogar ohne neue Schulden auskommen.

Gleichzeitig werden jedoch Abmachungen schon wieder aufgeweicht (SPD-Generälin Andrea Nahles schließt Steuererhöhungen nicht aus, obwohl das anders verabredet ist) oder es werden Versprechen gemacht, die gar nicht vereinbart wurden (Noch-Bildungsministerin Johanna Wanka, CDU: „Wir machen eine Bafög-Reform, darauf können Sie sich verlassen“).

Regiert hier das Prinzip Ungewissheit vor Verlässlichkeit? Und sitzen die Bürger am Ende doch nur einem gigantischen Täuschungsmanöver auf – nach dem Motto: Versprochen, gebrochen?


„Für die nächsten vier Jahre mache ich mir große Sorgen“

Fakt ist, die neun „prioritären Maßnahmen“, auf die sich die Spitzen von Union und SPD in ihren finalen Verhandlungen über einen Koalitionsvertrag ganz am Schluss verständigt haben, sollen, wie es im Vertrag wörtlich heißt, „auf jeden Fall“  in dieser Legislaturperiode kommen und stehen nicht unter Finanzierungsvorbehalt. Diese Zusatz-Milliarden vom Bund sind also eingeplant. Es geht um eine stärkere Entlastung von Kommunen und Ländern, mehr Geld für Investitionen in Verkehr, Bildung und Forschung, Städtebau, Entwicklungshilfe, Arbeitslose und mehr Geld für die Rentenkasse.

Der bisher genannten Summe von 23 Milliarden Euro als Finanz-Spielraum für die Zeit bis Herbst 2017 wird zwar nicht widersprochen. Offiziell ist sie aber noch nicht. Letztlich werden erst die neuen Entwürfe für den Etat 2014 und den Finanzplan des Bundes bis 2017 mehr Aufschluss geben. Am Ende könnte auch eine höhere Summe stehen. So oder so: Auf jeden Fall werden die die 15 Milliarden Euro, die Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) bisher an Überschüssen in seinem Budget veranschlagt hat, deutlich übertroffen. Und es könnte eben noch mehr werden. Das weckt Zweifel an der Seriosität der getroffenen Vereinbarungen.

„Beim Lesen des Koalitionsvertrages könnte man wirklich glauben, dass Steuererhöhungen ausgeschlossen werden“, sagte Steuerzahlerbundchef Holznagel Handelsblatt Online. Doch: „Dieser Eindruck trügt, denn allein durch den ungerechten Effekt der kalten Progression nimmt der Staat heimlich zusätzliche Milliarden ein. Im Jahr 2017 werden es zusammengerechnet über 80 Milliarden Euro sein.“ Hinzu komme, dass Freibeträge, Freigrenzen und Pauschalen „wahrscheinlich nicht“ an die Inflation angeglichen würden.

Aktiv könnte die Politik nach Holznagels Einschätzung tatsächlich etwas tun – allerdings zum Leidwesen der Steuerzahler und eher zu Gunsten des Staatshaushalts. Unter dem „Deckmantel der Steuervereinfachung“ könne die steuerliche Bemessungsgrundlage erweitert werden. „Das nennt man dann Abbau von Steuersubventionen. Auch hier ist der lachende Dritte der Bundesfinanzminister“, so Holznagel.

Der Steuerexperte geht überdies davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht „noch mehrere Wörtchen“ in den nächsten Jahren mitreden werde. Für 2014 etwa sei ein wichtiges Urteil zur Schenkungs- und Erbschaftsteuer zu erwarten. „Durch aktives Zuwarten könnte die Bundesregierung dann die Gelegenheit ergreifen und wieder an der Steuerschraube drehen“, befürchtet Holznagel. „Als Begründung würde dann das oberste deutsche Gericht herhalten müssen.“

Alle diese Befürchtungen, seien „sehr real“, betonte Holznagel, denn die Finanzierung der Ausgaben im Koalitionsvertrag sei „nicht solide“. Zudem schwiegen sich Union und SPD zu diesen konkreten Themen „verdächtigerweise“ aus. „Insofern mache ich mir für die nächsten vier Jahre große Sorgen“, sagte der Steuerzahlerbundpräsident.


„Für das Notwendige ist kein Geld da“

Dass die Sorgen Holznagels nicht von ungefähr kommen, belegen Berechnungen des Deutschen Steuerzahlerinstituts (DSi), das zum Bund der Steuerzahler gehört. Arbeitnehmer müssen demnach wegen der Pläne der Großen Koalition bereits in den nächsten Jahren mit spürbar höheren Abzügen beim Lohn rechnen. Demnach führten steigende Sozialbeiträge und die Wirkung der kalten Progression bei der Einkommensteuer dazu, dass mittlere Einkommen zwischen 20.000 und 90.000 Euro im Jahr 2017 mehrere hundert Euro mehr an Abgaben zahlen müssten als heute. Bei einem Bruttoverdienst von 60.000 Euro im Jahr liegt die Mehrbelastung der DSi-Berechnung zufolge bei mehr als 500 Euro.

Arbeitnehmer und Rentner müssen sich zudem auf steigende Krankenkassenbeiträge einstellen.  Darauf weist die Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen, Doris Pfeiffer hin. „Die aktuelle Finanzsituation darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben spätestens 2015 wieder aufgeht“, sagte Pfeiffer dem Magazin „Focus“. Sie warnte daher vor einer weiteren Kürzung des Bundeszuschusses an die Kassen, dies wäre „ein Beschleunigungsprogramm für Beitragserhöhungen“.

Das Bundesgesundheitsministerium rechnet laut „Focus“ bereits jetzt damit, dass der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2015 drei Milliarden Euro fehlen. Im Jahr 2016 wachse die Lücke auf rund sechs Milliarden und 2017 auf zehn Milliarden Euro. Experten gehen deshalb davon aus, dass viele Krankenkassen schon 2015 wieder einen Zusatzbeitrag verlangen müssen.

Ein großer Aufreger sind die Rentenpläne von Union und SPD, die laut Umfragen bei Bevölkerung extrem gut ankommen, während Sozialverbände und Arbeitgeber Sturm laufen. Nach der Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen unterstützten 90 Prozent die abschlagsfreie Rente mit 63 für langjährige Beitragszahler, und 86 Prozent begrüßen die Ausweitung der Mütterrente. Den Befragten ist aber wohl auf bewusst, dass das alles sehr viel kosten wird. Nur 16 Prozent sind demnach der Ansicht, dass die Koalition ihre Vorhaben ohne neue Schulden oder höhere Steuern finanzieren kann.

In diese Richtung argumentiert auch Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. „Die Finanzierung der Rentenpläne von Union und SPD ist absolut unklar, allein aus Beitragsmitteln werden diese nicht zu finanzieren sein“, sagte der Verbands-Hauptgeschäftsführer Handelsblatt Online. Steuererhöhungen – egal für wen – seien jedoch zum Tabu erklärt worden.

„Damit ist klar: Für vieles, was gesellschaftspolitisch notwendig ist, ist kein Geld da, sei es für Verbesserungen bei Hartz IV, Hilfen für benachteiligte Kinder und Jugendliche, Qualität in der frühkindlichen Erziehung oder eine sozial verträgliche Energiewende“, ist sich Schneider sicher. Ernüchternd stellt er daher fest: „Die ausgabenwirksamen sozialen Projekte, die sich dennoch im Koalitionsvertrag wiederfinden, werden leere Versprechen bleiben, solange Steuererhöhungen ausgeschlossen werden.“


"Vorzeigemodell Deutschland wird es bald nicht mehr geben"

Der neue Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer befürchtet gar wegen der Rentenpläne „drastische“ Zusatzbelastungen für die Beitragszahler. Die in der Rente und Pflegeversicherung geplanten zusätzlichen Leistungen beliefen sich auf „deutlich mehr als 20 Milliarden Euro im Jahr 2030“, sagte Kramer jüngst der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Doch nicht erst in ferner Zukunft summierten sich die Ausgaben, betonte er.

In der Rentenpolitik drohten sofort hohe Belastungen. Die Aufstockung der Mütterrenten nannte er zwar ein verständliches Anliegen. Sie koste aber jährlich 6,5 Milliarden Euro – mit steigender Tendenz bis zu acht Milliarden Euro. „Bis 2030 würde die zusätzliche Mütterrente insgesamt rund 130 Milliarden Euro kosten. Das wäre sogar mehr, als die Rente mit 67 bis dahin an Entlastung bringt.“ Kramer hält auch eine abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren für besonders langjährig Versicherte für einen „kapitalen Fehler“.

Die sozialpolitischen Vorhaben der Großen Koalition werden nach seiner Überzeugung nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Arbeitnehmer deutlich zu spüren bekommen. „Dies wird einen erheblichen Anstieg der Beitragsbelastung zur Folge haben, die Lohnzusatz- und damit die Arbeitskosten erhöhen und die verfügbaren Einkommen der Beschäftigten senken“, sagte er. Kramer bezifferte das Ausmaß nicht näher. In einem Papier kommt das Bundesfinanzministerium indes auf einen Anstieg der Sozialbeiträge um 3,4 Punkte auf mehr als 42 Prozent schon bis 2017.

Harsche Kritik äußerte auch der Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus Zimmermann. Mit dem Koalitionsvertrag werde die eigene enge Anhängerschaft zunächst ruhig gestellt, und Herausforderungen würden erst angegangen werden, wenn sie unvermeidbar seien, sagte Zimmermann Handelsblatt Online. "Dann ist es wahrscheinlich zu spät: Bleibt es bei dem Kurs des Regierungsvertrages, dann wird es das Vorzeigemodell Deutschland bald nicht mehr geben."

Nach Einschätzung Zimmermanns spiegelt der Koalitionsvertrag die politischen Realitäten wieder. "Es gibt eine linke Mehrheit, die nicht regieren will, und eine große Koalition, die nichts bewegen kann", sagte er. Zudem habe die Bevölkerung "keinen Bedarf, ökonomische Realitäten zu Ernst zu nehmen". Insoweit sehen man eine "Übung der Politik in Selbstdisziplin".


„Wer Steuererhöhungen ausschließt, führt die Leute hinters Licht“

Vernichtend fällt auch die Bewertung der Grünen aus. „Wer Steuererhöhungen ausschließt, gleichzeitig aber Millionen von Rentnern und Beschäftigten bei der Rentenversicherung schröpft, will die Leute hinters Licht führen“, sagte die Chefhaushälterin der Grünen-Bundestagsfraktion, Priska Hinz, Handelsblatt Online. „Irgendwann werden auch die größten Rücklagen der Rentenversicherung aufgebraucht sein, dann werden die Versicherten noch einmal mehr drauf zahlen müssen.“ Merkel und Gabriel hätten viel angekündigt, die Kosten wollten sie aber möglichst in die nächste Legislaturperiode verschieben. „Das ist unredlich und hasenfüßig.“

Aus Sicht der Grünen-Politikerin können Union und SPD nicht einmal das bezahlen, was sie im Koalitionsvertrag als prioritäre Maßnahmen bezeichnen. „Für ein Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderungen, das auch die Kommunen um fünf Milliarden Euro im Jahr entlasten würde, gibt es in den kommenden vier Jahren kein Geld, obwohl dies im Vertrag suggeriert wird“, begründete sie ihre Einschätzung und resümiert: „Die Große Koalition verspricht eine Fülle von Maßnahmen, die klammheimlich auf unbestimmte Zeit aufgeschoben werden. Über die tatsächlichen Vorhaben in dieser Wahlperiode werden die Menschen getäuscht.“

Das mit der Täuschung sieht CSU-Urgestein Gauweiler anders. Am Ende seien Koalitionsverträge immer bloß „politische Momentaufnahmen zum Zeitpunkt ihres Entstehens“ gewesen, zitiert die „Welt“ den Bundestagsabgeordneten. Womit und wodurch die Regierungen später real gefordert wurden, habe da nicht dringestanden. „Deswegen sage ich allen, die sich an diesem Koalitionsvertragstext jetzt abarbeiten und fast daran verzweifeln: Grau ist alle Theorie.“

Tatsächlich liegt Gauweiler nicht ganz falsch. In der Geschichte der bundesdeutschen Regierungen und Regierungsbildungen seit 1949 findet man zuhauf Vereinbarungen, die sich als wenig praxistauglich erwiesen, wie die „Welt“ berichtet. Wer sich beispielsweise die noch in Bonn getroffenen Vereinbarungen von Grünen und Sozialdemokraten aus dem Herbst 1998 aus dem Archiv hole, müsse sich schon nach ein paar Seiten die Augen reiben, schreibt die Zeitung. „Denn mit den Herausforderungen und Themen, die Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer in den ersten Jahren meistern mussten, hat der 42 Seiten lange Text kaum etwas zu tun.“

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