Köln und die Silvester-Übergriffe Mehr Polizei heißt nicht mehr Sicherheit

Nach den Kölner Attacken zweifeln manche an der Funktionsfähigkeit des deutschen Rechtsstaats. Ein Blick auf die Personalentwicklung der Polizei bestätigt diesen Schluss – und weist doch in die falsche Richtung.

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Polizisten stehen am 6. Januar in Köln vor dem Hauptbahnhof neben dem Dom. Nach den sexuellen Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht verstärkt die Polizei die Präsenz. Quelle: dpa

Wer bei rechtsfreien Räumen an Mittelamerika oder Syrien denkt, der war noch nie im Harz. Das Örtchen Thale, 17.000 Einwohner, ein Kino, ein Thermalbad, hatte bis vor zwei Jahren eine Polizeiwache. Dann aber beschloss der Landtag in Magdeburg eine Polizeireform und Thale war die Wache los. „Regionalbereichsbeamte“ sollen seitdem bei Bedarf gerufen werden.

Bürgermeister Thomas Balcerowski (CDU) aber reicht das nicht. Er sorgt sich, dass er in Thale „die Sicherheit nicht mehr gewährleisten könne“. Und reagierte eigenmächtig: Seit einiger Zeit fährt nachts ein Sicherheitsdienst in blauen Autos durch den Ort. Doch auch das reicht den Bewohnern nicht. Denn in Kürze bekommt Thale ein Flüchtlingsheim, 200 Migranten sollen dort leben. Also soll die Zahl der Streifenwagen steigen. Das Magdeburger Innenministerium sieht die Aktion kritisch, doch Balcerowski sagt: „Es geht um die Sicherheit in Thale, da ist mir egal, was das Ministerium denkt.“

Bis vor wenigen Tagen hätte man solche Aktionen als lokale Posse abgetan. Typisch Provinz, typisch Ostdeutschland. Doch seit immer neue Details über die Horrornacht von Köln bekannt werden, stellen sich viele Fragen anders.

Die Polizei am Hauptbahnhof war nicht nur unterbesetzt und unvorbereitet. Auch auf dringende Bitten konnte offenbar keine Verstärkung geschickt werden. Der Kölner Vorfall gibt damit einem seit Längerem offensichtlichen Problem eine neue Dimension: Die Überforderung des deutschen Sicherheitsapparats - nicht nur, aber auch in der Flüchtlingskrise. Hunderte Bundespolizisten sind mit der Organisation des Flüchtlingsstroms an der Grenze zu Österreich beschäftigt, Landespolizisten in die lokale Verteilung eingebunden. Schon bei den Krawallen vor dem Flüchtlingsheim im sächsischen Heidenau dauerte es erschreckend lange Stunden, bis ausreichend Polizei vor Ort war.

Überstunden und unbearbeitete Fälle häufen sich

Die Deutungen dieser Ereignisse gingen bis dato in unterschiedliche Richtungen. Die Regierungen im Bund und den Ländern sehen ihre Polizeiapparate im Prinzip gut aufgestellt, konkrete Organisationsprobleme hin oder her. Der bayrische Innenminister bietet immer wieder an, die Bundespolizei an der Grenze bei der Registrierung zu unterstützen. Das ist politische Taktik, aber auch eine Demonstration der eigenen Stärke. Polizeigewerkschafter hingegen weisen bei jeder Gelegenheit auf Millionen Überstunden, unbearbeitete Fälle und generellen Personalmangel hin.

Was Flüchtlinge dürfen

Wird Thale also bald zum bundesweiten Modell? Bundesweit kommen demnach auf 100.000 Einwohner 322 Polizisten. Das sind neun weniger als noch zehn Jahre zuvor. Das subjektive Gefühl der wachsenden Unsicherheit findet hier eine zahlenmäßige Bestätigung. Zudem zeigen die Zahlen eklatante Unterschiede zwischen den Ländern. So kommen in Mecklenburg-Vorpommern auf 100.000 Einwohner 360 Polizisten, im benachbarten Schleswig-Holstein sind es nur 275. Die höchsten Werte weisen die Stadtstaaten auf: In Berlin gibt es 658 Polizisten pro 100.000 Einwohner. Doch trotz der deutlich höheren Beamtendichte würde keiner auf die Idee kommen, Berlin für sicherer als Schleswig-Holstein zu erklären.

Gefühlte Sicherheit sinkt

Das zeigt vor allem: Vernünftige Schlüsse lassen sich aus den Zahlen nur ziehen, wenn man sie ins Verhältnis zur Bevölkerungsdichte setzt. Kriminalität ist ein Großstadtphänomen, deshalb muss hier auch die Dichte an Polizisten höher als auf dem Land sein, um das gleiche Maß an Sicherheit erreichen zu können. Umso schockierender ist daher der Blick auf den hintersten Platz der Statistik: Mit 272 Polizisten pro 100.000 Einwohner ist ausgerechnet Nordrhein-Westfalen, das am dichtesten besiedelte Flächenland, am dünnsten mit Polizisten besetzt. Auch die verhältnismäßig dicht besiedelten Bundesländer Baden-Württemberg und Hessen weisen eine sehr geringe Abdeckung mit Polizeibeamten auf. Ein wenig entlastet wird das Schlusslicht Nordrhein-Westfalen, wenn man die Veränderung in den vergangenen Jahren mit in den Blick nimmt. Denn seit 2002 hat sich nur in sechs Ländern die Polizistenabdeckung erhöht und Nordrhein-Westfalen machte dabei den größten Sprung.

Die Statistik ist das eine, die gefühlte Sicherheit jedoch etwas völlig anderes. So konzentrieren sich die Geschichten über kommunale Streifendienste wie in Thale und Bürgerwehren bisher auf ostdeutsche Bundesländer, wo die Abdeckung mit Polizeibeamten mit Ausnahme Thüringens deutlich höher als in Westdeutschland ist. Die Ursachen haben aber mit Ost und West wenig zu tun und liegen eher in der Politik der vergangenen Jahre. Da hat es in allen ostdeutschen Bundesländern große Polizeireformen gegeben, bei denen die Zahl der Polizisten zum Teil deutlich gesenkt werden sollte.

Feldjäger werden zu Polizisten umgeschult

So gibt es in Mecklenburg-Vorpommern aktuell knapp 6000 Polizisten, bis 2020 sollten es nur noch 5500 sein. In Brandenburg sollte die Zahl von 8100 auf 7800 reduziert werden. In Sachsen sollte die Zahl der Beamten von 13.000 auf gut 10.000 verringert werden. Auch in Thüringen und Sachsen-Anhalt war ein Abbau von mehr als zehn Prozent der Stellen vorgesehen. Im Zuge der Flüchtlingskrise aber hat sich der Wind gedreht. Ende vergangenen Jahres wurden die Abbaupläne in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen gestoppt, in den anderen Ländern wird ähnliches diskutiert. Stattdessen macht jetzt das „Brandenburger Modell“ die Runde. Dort hat man eilig begonnen, Feldjäger zu Polizisten umzuschulen, um die Belastungen durch die Flüchtlingskrise irgendwie in den Griff zu bekommen.

In Sachsen geht man noch einen Schritt weiter und führt die Wachpolizei wieder ein. Nach einer Kurzausbildung von drei Monaten werden jetzt Bürger fit gemacht, um dann beim Objektschutz vor Flüchtlingsheimen eingesetzt zu werden. 550 Hilfspolizisten sollen so zügig rekrutiert werden.

Das alles dokumentiert vor allem die wachsende Hilflosigkeit des Sicherheitsapparats. Denn mehr Polizisten allein können nicht für mehr Sicherheit sorgen. Das zeigen die oft martialischen Einsätze der Polizei in brasilianischen Favelas, die zwar kurzfristig für Ruhe sorgen, aber dauerhaft die Gewalt nicht eindämmen können. Auch internationale Vergleiche belegen, dass man Sicherheit kaum durch mehr Personal erkaufen kann. So ist innerhalb Europas die Abdeckung mit Polizisten in Skandinavien und der Schweiz am niedrigsten - das sind zugleich die Länder mit der geringsten Quote schwerster Gewaltdelikte. In anderen Ländern wie Bulgarien, Belgien, Griechenland oder der Türkei gibt es hingegen trotz einer hohen Zahl von Polizeibeamten extrem viele schwere Gewalttaten.

Sicherheit ist offenbar eine Frage der zivilen Kultur. Wo Gewalt ausreichend tabuisiert ist, da kommt die Polizei auch mit relativ wenig Personal ihrer Verantwortung nach. Ist Gewalt hingegen einmal Normalität geworden, hilft auch die schärfste Aufrüstung wenig. Die tagelange Aufregung nach den Vorfällen in Köln zeigt einerseits, dass diese Tabuisierung in Deutschland funktioniert. Steigende Umsatzzahlen der Hersteller von Pfefferspray und die wachsende Nachfrage nach Waffenscheinen in einigen Teilen des Landes weisen andererseits darauf hin, dass diese Kultur schnell in Gefahr gerät.

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