Krankenkassen Auf dem Rücken der Patienten

Durch die Trennung von Arztpraxis und Krankenhaus entsteht ein unkoordinierter Wildwuchs, moniert die AOK. In ihrem Krankenhausreport gehen die Experten noch weiter – und greifen Gesundheitsminister Gröhe scharf an.

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Die Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Versorgung ist laut dem Krankenhausreport des AOK-Landesverbandes zum Nachteil der Patienten. Quelle: dpa

Berlin Früher waren die beiden Gesundheitssektoren Krankenhaus und Arztpraxis in Deutschland vollkommen getrennt: Abgesehen von der Notaufnahme, die meistens auch mit einem mehrtägigen stationären Aufenthalt endete, kümmerten sich die Kliniken nur um die stationäre Behandlung von der kleinen Blinddarm-OP bis zur Herztransplantation. Die niedergelassenen Ärzte waren für die ambulante Therapie zuständig und wiesen bei Bedarf Patienten zu Weiterbehandlung ins Krankenhaus ein.

Auch die Honorierung der beiden Sektoren folgte und folgt immer noch unterschiedlichen Regeln. Vieles wird als Folge dieser Trennung heute in Deutschland doppelt gemacht: Vom Hausarzt, zum Facharzt, vom Facharzt am Ende in die Klinik.

Diese Behandlungskette steht für vermeidbare Doppeluntersuchungen und Übertherapie. Experten sprechen von der doppelten Facharztschiene. Gemeint ist, dass auf jeden Facharzt in der Klinik einer in niedergelassener in einer Praxis kommt. Beide wollen verdienen. Die Überwindung der Sektorengrenzen ist deshalb ein Dauerthema in der Gesundheitspolitik.

Im Prinzip ist es bis heute bei dieser Trennung geblieben. Doch inzwischen hat es kleine Öffnungen in der Mauer zwischen ambulant und stationär gegeben. Zuletzt erhielten die Kliniken das Recht, Patienten mit besonders schweren oder besonders komplizierten Krankheitsverläufen auch ambulant zu behandeln. Auch hochspezialisierte Therapien dürfen nun am Krankenhaus erbracht werden, auch wenn der Patient nicht stationär aufgenommen wird.

Nun belegt der aktuelle Krankenhausreport des AOK-Bundesverbands, dass genau diese Politik der habherzigen Öffnungen eher neue Unwirtschaftlichkeiten und Qualitätsprobleme hervorbringt, als die alten zu beheben. „In deutschen Krankenhäusern wird immer häufiger ambulant behandelt“, so der Mitherausgeber des Reports Jürgen Wasem.

Inzwischen gebe es rund 20 verschiedene ambulante Versorgungsformen. Doch hinter dieser Vielfalt stecke kein rationales Ordnungsprinzip. „Am Ende werden hier identische Leistungen in verschiedenen Rechtsformen verpackt und dann auch unterschiedlich vergütet“, kritisiert der Gesundheitsökonom der Universität Duisburg-Essen.


Ungute Konkurrenz zwischen ambulanten und stationärem Sektor

Es sei ein völlig unkoordinierter Wildwuchs entstanden. Dies gelte leider auch für die Bedarfsplanung, bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung und den Zugangsregeln. „Die zahlreichen politischen Entscheidungen haben nur zu Patchwork geführt“, moniert auch AOK-Vorstand Martin Litsch. Und das gehe mit hohen Reibungsverlusten einher. „Sowohl für die Patienten, die mitunter unnötige Doppeluntersuchungen erhalten, als auch für das Gesundheitswesen, dessen personelle Ressourcen nicht effizient eingesetzt werden.“

Litsch geht in seiner Kritik an der aktuellen Politik von Gesundheitsminister Hermann Gröhe sogar noch einen Schritt weiter. Er wirft dem Minister vor, mit der kürzlich verabschiedeten Krankenhausreform und seinem Landärztegesetz die Gräben zwischen Krankenhaussektor und ambulanter Versorgung vertieft zu haben, statt sie zuzuschütten. Das sieht Ferdinand Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt, ähnlich. Er ist nebenberuflich Vorsitzender des Sachverständigenrats der Bundesregierung für das Gesundheitswesen.

Die ungute Konkurrenz zwischen ambulantem und stationärem Sektor sei immer noch nicht überwunden. „Die Folgen sind inakzeptabel: Informationsbrüche und darauf resultierende Missverständnisse sowie Behandlungsfehler, unkoordinierte Mehrfachdiagnostik und Therapie, zu viele teure Arzt-Patientenkontakte und unangemessene Ausweitungen bei der Menge der erbrachten Leistungen“, sagt Gerlach. 

Vieles, was in anderen Ländern ambulant gemacht werde, finde in Deutschland weiter am Krankenhaus statt. „Das deutsche Gesundheitswesen ist wie ein geteiltes Land. Zwischen Kliniken und Praxen verläuft eine unsichtbare Mauer, die für Patienten gefährlich und für alle viel zu teuer ist.“

Ein Beispiel ist die Behandlung leichter Leistenbrüche. In den USA, Kanada oder Dänemark werden die Brüche in aller Regel ambulant repariert. In Deutschland ist der Leistenbruch immer noch der häufigste Grund für eine vollstationäre Behandlung mit mindestens zwei Tagen Liegen im Krankenhausbett. Der einzige Grund dafür sei, so Gerlach, dass es für den Eingriff im  Krankenhaus von der Krankenkasse mehr Geld gibt.


Sachverständigenrat setzt auf eine stärkere Öffnung

Am schlimmsten ergeht es in diesem System Menschen, die mehrere Krankheiten haben und deshalb gleichzeitig von verschiedenen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern behandelt werden. „Für sie übernimmt keiner der Akteure die Verantwortung, auch der Hausarzt nicht.“

Der Hausarzt wäre zwar, so Gerlach, im Zweifel die richtige Person um die Behandlung eines solchen Patienten zu koordinieren. „Doch in der Regel werde er nicht einmal informiert, was mit dem Patienten auf den verschiedenen Behandlungsstationen passiert. So kann er vermeidbare Diagnostik und Therapie nicht verhindern, geschweige denn dafür sorgen, dass dringend erforderliche Untersuchungen auch passieren.“ Und dies, obwohl er den Patienten oft schon jahrelang begleitet hat.

Der Ausweg aus dieser Misere: „Die Politik muss endlich an der Schnittstelle zwischen ambulanten und stationären Leistungen einheitliche Spielregeln und einen neuen Ordnungsrahmen vorgeben“, fordert Wasem. Die Einzelheiten könnte der ohnehin für die Definition des Leistungskatalogs zuständige gemeinsame Bundesausschuss vornehmen.

Der Sachverständigenrat setzt auf eine stärkere Öffnung für Verträge zwischen Ärzten Kliniken und Krankenkassen zu integrierten Versorgungsmodellen. Außerdem plädiert er dafür, die unterschiedlichen Vergütungssysteme in Praxis und Krankenhaus innerhalb solcher Verträge teilweise durch an Versorgungszielen und am Behandlungsbedarf der betroffenen Versicherten ausgerichtete Pauschalen und Budgets zu ersetzen.

AOK-Chef Litsch fordert dagegen eine grundlegende Reform: Er will in Zukunft nicht nur einheitliche Honorare für die ambulante Therapie an der Klinik und in der Praxis. Künftig solle außerdem das ambulante Behandlungsangebot der beiden vom jeweiligen Bundesland genauso gesteuert werden, wie es heute bereits für den Krankenhausbereich alleine geschehe. Alternativ könne auch den Kassen das Recht gegeben werden, die notwendigen Kapazitäten durch Versorgungsverträge mit Praxen und Kliniken sicherzustellen. „Beide Wege sind besser als das, was wir derzeit haben“, sagte Litsch.

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