Kulturkritik Macht Konsum dumm?

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"Über den affirmativen Charakter der Kultur"

Die Analyse hatte ein anderer Philosoph aus dem Kreis der Frankfurter Schule schon 1937 vorgegeben. In seinem Aufsatz „Über den affirmativen Charakter der Kultur“, wiederaufgelegt 1965 unter dem Titel „Kultur und Gesellschaft I“ – das Taschenbuch erreichte eine Auflage von 80.000 –, beschrieb Herbert Marcuse, wie in der bürgerlichen Epoche das „Gute, Schöne, Wahre“ in den Reservatbereich der Kultur abgedrängt und damit stillgestellt wurde. Gewiss, die Kunst halte den Verhältnissen das „Bild einer besseren Ordnung“ vor, allerdings um den Preis des „Sich-Abfindens mit dem Bestehenden“. Sie kompensiere das Elend der Verhältnisse.

Deshalb plädiert Marcuse für ihre Aufhebung: Anders als bei Adorno soll die Kunst in den Alltag geholt werden, als praktische Realität. Ein Idee, die 30 Jahre später zur konkreten Utopie wurde, als in den Jahren der Revolte Blumen die Barrikaden schmückten und die „Fantasie an die Macht“ kam. Bei seinem Berliner Auftritt, wenige Wochen nach dem Tod von Benno Ohnesorg, wurde Marcuse im Audimax der Freien Universität wie ein Guru gefeiert, der das „Ende der Utopie“ in Aussicht stellte.

Daraus ist nichts geworden, stattdessen hat die Versöhnung von Kunst und Leben so große Fortschritte gemacht wie die Allianz von Kunst und Konsum – nicht immer zum Vorteil der Kunst. Seit Dada, Fluxus und Happening-Art gehört es zu ihrem Anspruch, sich selbst vom Sockel zu stoßen und zugleich die Alltagsrealität in den Rang des Künstlerischen zu erheben. Mit der Folge, dass die attraktivsten Plätze der Stadt heute von Classic-Nights „bespielt“ werden und uns im Museum Suppenteller, Urinale und Erdhaufen begegnen.

Das Schöne wird mit dem Trivialen gekreuzt, die Werbung zugleich mit Ästhetik aufgeladen: „Entkunstung der Kunst und Verkunstung der Wirklichkeit bilden zwei gegenläufige Ansichten ein und desselben Vorgangs“, so resümierte der Philosoph Rüdiger Bubner.

Dazu gehört, dass der Glaube an die Kunst dramatisch abgenommen hat: Man erwartet keine Erlösungsbotschaften von ihr und geht nicht mehr in die Knie vor der Aura des Werks in einer Zeit, in der Künstler bereitwillig der ökonomischen Logik des Markts folgen: „Sammler wie Künstler verdienen aneinander“, sagt der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich, „die einen sammeln Prestigepunkte, die andern steigern ihren Marktwert.“ Gleichzeitig hat der Konsum den Hautgout des Minderwertigen abgelegt: Der Konsumbürger ist zum Doppelgänger des Bildungsbürgers geworden; in seinem Kaufverhalten drückt sich subtile Kennerschaft aus, das Wissen um den ästhetischen, zuweilen sogar ethischen Wert der Waren.

Einen Ausweg aus dem Dilemma gibt es nicht: Wo heute Kunst ist, wächst das Konsumierende auch – aber nichts Rettendes mehr. Weil Konsum sich nicht vollständig in Kunst auflösen kann, wohl aber Kunst in Konsum, bleibt allein die Kunst aufgefordert, sich immer wieder in Sicherheit zu bringen – und auf einer Selbst-Verortung zu bestehen, die dem Zugriff des Ökonomischen ebenso entzogen ist wie seiner trivialen Übersetzung in die alltägliche Lebenswelt à la Marcuse.

Das Glücksversprechen der Kunst zeigt sich heute darin, dass es die Wirklichkeit transzendiert. Erst die in Schein verwandelte Schönheit taugt als Waffe gegen eine prosaische, die Fantasie entmündigende Wirklichkeit. Oder anders gesagt: Das Illusionäre ist das Beste, was Kunst zu bieten hat. Mit ihr zu leben heißt deshalb, ihr Spielräume einzuräumen und schützende Institutionen, die uns von den Forderungen nach Erfolg und Effizienz entlasten. Als Ausnahmezustand ist sie ein Glück, als Dauerzustand eine Plage. Nur im Bezirk des Exterritorialen atmet sie den Geist der Freiheit. Schiller hatte schon recht: „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.“ Eben drum muss man das Heitere als das andere ernst nehmen.

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