Nordrhein-Westfalen, dieses stolze Bundesland, fast 18 Millionen Einwohner stark, schon fast aus Traditionspflege von der SPD regiert, gilt als Herzkammer der Sozialdemokratie. Ist dies weiterhin gültig, hat die Partei gerade einen Herzstillstand erlitten. Abgesunken auf den niedrigsten Wahl-Wert aller Zeiten (nicht einmal mehr jede dritte Wählerstimme erhielt sie in Nordrhein-Westfalen), fortgejagt aus der Regierung, bezwungen von einem CDU-Herausforderer Armin Laschet, über den bislang Feinde (und Parteifreunde) selten einig spotteten, er sei vor allem lasch, lascher, am laschesten.
Dieses Resultat ist für die SPD nicht einfach ein Infarkt, es ist ein Organ-und Kreislaufversagen – und wie gelähmt die Partei nun dasteht, war an dem Auftritt von Kanzlerkandidat Martin Schulz abzulesen, dem ob des Wahlergebnisses in seinem Heimatland beinahe die Stimme versagte, so dass er nur von einem "schlimmen Tag" raunen konnte. Nun beginne der Bundestagswahlkampf erst, beharrte Schulz unverdrossen. Der Kandidat könne nun erst richtig loslegen, soufflieren seine Berater, er müsse endlich keine Rücksicht mehr auf Landtagswahlen nehmen.
Das Argument ist schon deshalb absurd, weil Schulz diese Landtagswahlen ja keineswegs als Belastung ansah, sondern als Chance – tolle Ergebnisse, idealerweise ein 3:0 im Saarland, in Schleswig-Holstein und NRW, sollten ihn ins Kanzleramt tragen. Stattdessen legte er einen Niederlagen-Triple hin, wie ihn sich kein CDU-Stratege gemeiner hätte ausdenken können. Martin Schulz könnte nicht nur ein weiterer Herausforderer werden, der an Angela Merkel scheitert. Er könnte derjenige werden, der dies schon lange vor dem Wahltermin getan hat.
Natürlich: Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen war auch eine Abstimmung darüber, wie schwach das Bundesland wächst, wie viele Menschen dort regelmäßig im Stau stehen, wie marode die Schulen sind, wie pampig die Ministerpräsidentin häufig agierte, wie chaotisch ihr Innenminister Ralf Jäger das Thema Innere Sicherheit verwaltete.
Doch ebenso selbstverständlich war sie auch eine weitere Abstimmung über den (an)laufenden Bundestagswahlkampf. Schulz selbst hatte ja lautstark verkündet, ein Sieg von Hannelore Kraft beschere auch ihm den Sieg im September. Zunächst konnte der Kandidat sie in Umfragen auch beflügeln, doch davon war zuletzt nichts mehr zu spüren - eher schien Schulz zur Belastung für Kraft zu werden, zum Menetekel für Wahlniederlagen.
Wahlkampf beginnt auf der Intensivstation
Kann Kandidat Schulz sich von diesem gewaltigen Rückschlag erholen? Theoretisch schon, in der Tat beginnt der Wahlkampf ja erst, noch sind es über vier Monate bis zum Urnengang im Bund. Aber wie genau soll ihm dies gelingen? Spitzengenossen betonen, noch stehe Schulz' inhaltliche Positionierung ja aus. Sobald klarer werde, was er im Ringen mit der Kanzlerin genau vorschlage, gewinne der Wahlkampf ganz neuen Schwung.
Schulz will nun Innovation und Zukunftsfähigkeit mehr in den Blickpunkt rücken als seinen Dauerbrenner Soziale Gerechtigkeit.
Doch die anfängliche Begeisterung rund um den Kandidaten Schulz hat sich weniger an Inhalten entfacht als an seiner Person, seiner eigenen spannenden Geschichte. Die kann er Deutschland nicht ein zweites Mal ganz neu erzählen und auf ähnlich positive Reaktionen hoffen. Schulz kann auch nicht ignorieren, dass die Wechselstimmung im Land offenbar nicht so stark ist, wie viele Sozialdemokraten hofften. Inhaltliche Detailarbeit ändert daran wenig.
Außerdem machen zwei weitere Umstände einen neuen Aufschwung für Schulz zwar nicht unmöglich, aber doch schwerer: Auch Kanzlerin Merkel wird noch eine Chance haben, sich den Wählern als (erneute) Kanzlerkandidatin neu vorzustellen - und mit ganz neuem Selbstbewusstsein zu erklären, weshalb sie erneut antritt.
Und: Die FDP hat in NRW nicht nur ein historisch gutes Ergebnis eingefahren, sondern – im Verbund mit ihrem guten Ergebnis in Schleswig-Holstein – historisch viel Selbstbewusstsein getankt. Die Möglichkeit einer Neuauflage von Schwarz-Gelb ist mit diesem Sonntag wesentlich realer geworden. Der Wahlkampf beginnt erst jetzt, sagt die SPD, sagt Martin Schulz. Aber beide beginnen ihn auf der Intensivstation.