In der Realität könnte eine Prioritätsregel ergänzend zum bereits bestehenden System wirken. Die Organe werden in Deutschland nach bestimmten Kriterienkatalogen vergeben. Dabei spielen viele verschiedene medizinische Kriterien eine Rolle, die je nach Organ unterschiedliche Gewichtungen haben. Diese Gewichtungen werden verrechnet, sodass am Ende eine Punktzahl entsteht. Zu diesem Wert wollen Herr und Normann Punkte dazu addieren, je nachdem ob eine Person Spender ist oder nicht: „Wenn ich bereit bin, meine Organe zu spenden, ist es gerecht, dass ich davon profitiere, sollte ich selbst eines benötigen. Wenn jemand nicht bereit ist, muss er etwas länger warten“, sagt Herr. Wie viele Zusatzpunkte es für eine Registrierung als Spender geben soll, das sei eine politische Entscheidung.
Laut Umfragen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) haben mittlerweile 32 Prozent der Bundesbürger ihren Willen in einem Organspendeausweis dokumentiert, in 2010 waren es noch 25 Prozent. Über 70 Prozent der Befragten wären laut Umfrage sogar bereit, ihre Organe nach ihrem Tod für schwerkranke Patienten zu spenden.
Birgit Blome, Pressesprecherin der „Deutsche Stiftung Organtransplantation“ (DSO) erklärt, dass die Zahl der gemeldeten Organspender aus den Entnahmekrankenhäusern in den letzten Jahren insgesamt zurückgegangen ist: „Allzu oft wird die Auseinandersetzung mit dem Thema und das tatsächliche Ausfüllen eines Ausweises dann doch vor sich hergeschoben – aus Bequemlichkeit oder weil es unangenehm ist, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Dabei ist es im Akutfall von großer Hilfe, wenn die Angehörigen wissen, wie der Verstorbene über Organspende gedacht hat. Andernfalls bleiben bei den Hinterbliebenen Bedenken, möglicherweise doch die falsche Entscheidung getroffen zu haben - in die eine oder die andere Richtung.“
Der Nationale Ethikrat Deutschland hatte sich 2007 gegen eine Prioritätsregelung zur Förderung der Organspenden ausgesprochen. Eines der Hauptargumente war, dass Menschen einen Nachteil hätten, die nicht über die Boni informiert würden. „Natürlich muss ausreichend darüber informiert werden“, sagt Herr. Wenn die Dringlichkeit da sei und die anderen Kategorien erfüllt werden, bekämen Nicht-Spender gegebenenfalls immer noch schneller ein Organ als Spender. „Wir wollen nicht, wie in vielen anderen Experimenten getestet, die absolute Priorität“, sagt Herr.
Prioritätsregelungen ähnlich zu denen im Experiment gibt es bereits in Israel, Singapur und Chile. In zahlreichen europäischen Ländern, darunter Österreich, Spanien, Irland und ein Großteil der skandinavischen Länder, gilt die Widerspruchslösung. Hat der Verstorbene in diesen Ländern einer Organentnahme zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen, so können Organe zur Transplantation entnommen werden. In einigen Ländern haben die Angehörigen ein Widerspruchsrecht.
Annika Herr ist vor allem wichtig, dass das Thema Organspende mehr Aufmerksamkeit bekommt: „Wir plädieren für mehr Transparenz und mehr Diskussion über das Thema.“