Echte Freiheit ist echte Wahlfreiheit. Sie setzt nicht nur Optionen voraus, die ich ergreifen kann oder nicht, sondern die dreifache Fertigkeit, sie zu ergreifen, ihren Wert einzuschätzen - und meiner Entscheidung für die eine oder andere Option einen Sinn beizumischen. Selbst Mill hatte letztlich keinen Zweifel daran, dass Freiheit eine Richtung haben muss - und es ist schlimm, dass so viele seiner “liberalen” Apologeten sich bis heute hartnäckig weigern, das anzuerkennen. Tatsächlich sind “Individualität und Entwicklung” für Mill ein und dasselbe - allein ihre Pflege, schreibt er, bringe “wohl entwickelte menschliche Wesen” hervor. Allen freiheitsfähigen Charakterköpfen rät er, den anderen “ein Beispiel zu geben für aufgeklärte Lebensführung, besseren Geschmack und Sinn im Menschenleben“. Und natürlich hält er “Rat“, “Belehrung”, “Tadel”, ja sogar “Überredung” für geeignete Mittel, um die Denkfaulen, Antriebsarmen und Freiheitsmüden auf Kurs zu bringen.
Entsprechend fällt dem Liberalismus heute die dreifache Rolle zu, das Prinzip des Eigentums global und generationenübergreifend zu denken, das Prinzip der Sorge pädagogisch auf die Spitze zu treiben - und das Prinzip der Freiheit zugleich so entschlossen wie irgend möglich gegen politische Nivellierungsversuche zu verteidigen. Der Liberalismus der Zukunft muss einerseits radikal aufklärerisch sein - und uns in aller Deutlichkeit über den Unterschied informieren, den es für uns und unsere Nachfahren macht, einen 15-Liter-SUV oder einen Drei-Liter-Polo zu fahren. Und er muss andererseits die Freiheit derer schützen, die nicht immer nur Kürbis vom Bio-Bauern nebenan essen wollen, sondern auch mal eine Flugananas - und sei diese Wahl noch so vernunftfrei. Er darf uns jederzeit auf die volkswirtschaftliche Bedeutung eines naturwissenschaftlichen Studiums hinweisen, muss sich aber zugleich seine Sympathie erhalten für all die Träumer und Taugenichtse, die ihr Leben auf eigene Rechnung während eines “ewigen Sonntags” vertändeln (Eichendorff). Es ist am Liberalismus, uns täglich daran zu erinnern, dass jede Einschränkung der individuellen Freiheit gut begründet werden muss - und nicht umgekehrt: dass jede Freiheit, die man sich nimmt, sogleich unter Verdacht gestellt werden darf, andere zu schädigen.
Seiner Pflicht indes, einer umfassend gedachten und verantwortungsvoll ergriffenen Freiheit einen höheren Wert beizumessen als einer an Geld, Genuss oder Zukunftsvergessenheit verschwendeten, ist der Liberalismus damit keineswegs enthoben. Zu Mills Zeiten mochte es wohl sein, dass der “Verlust an Achtung” Strafe genug war für jemanden, der seine Freiheit vergeudete und seiner Verantwortung entfloh. Heute kann sich jeder seinem Achtungsverlust und seiner Haftung entziehen und dabei auf den Beifall seiner peer group zählen - sei es in einer Straßengang oder in einem tropischen Steuerparadies.
Eine liberale Wirtschaftspolitik zeichnet sich deshalb nicht dadurch aus, möglichst viele Anreize zu setzen und möglichst wenig Verbote auszusprechen, sondern dadurch, dass sie gut begründen kann, warum sie sich von Fall zu Fall einmischt. Tabu, wie gesagt, sind allein Maßnahmen der allgemeinen Preis- und Lohnbindung - sie zerstören das Fundament der Marktwirtschaft, deren überragende Vorzüge heute Gott sei Dank so evident sind, dass sie keiner weiteren Erklärung bedürfen.
Zur Sicherung der Freiheit und Marktwirtschaft in der Moderne aber gehört ein Eigentumsbegriff, der auf Erhaltung statt Expansion, auf Sicherung statt Säumigkeit und auf Verantwortung statt Vergeudung setzt, also eine Ordnungspolitik, die uns befähigt, unsere Freiheit dauerhaft, sinnvoll und generationenübergreifend ausüben zu können. Geldwertstabilität, Schuldenabbau, Bildungsgerechtigkeit und Lohnuntergrenzen gehören daher genauso zu ihren Prämissen wie die ein Sozialstaat, der seine Fürsorge auf Härtefälle konzentriert, die konsequente Einrechnung von Umweltkosten - und natürlich die rigorose Durchsetzung des Haftungsprinzips für alle am Markt eingegangenen Risiken. Anders gesagt: Eine liberale Wirtschaftspolitik zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie durch Tatenlosigkeit “Systemrisiken” erzeugt, die politische “Alternativlosigkeiten” zur Folge haben, sondern dadurch, dass sie auf die größtmögliche Abwesenheit von Zwängen besteht - und unseren Nachkommen die Freiheit erhält, sie wahrnehmen zu können.
Wir sind überzeugt, dass die Wahlniederlage der FDP nicht das Ende des politischen Liberalismus bedeuten darf. Die WirtschaftsWoche will darum an dieser Stelle der Freiheit ein Forum geben. Wir werden hier Beiträge unserer Redakteure ebenso veröffentlichen wie solche von Gästen. Wir freuen uns, wenn Sie als mündige, freie Bürger auf unserem Online-Forum öffentlich das Wort ergreifen. Was bedeutet heute Freiheit? Wo ist sie durch den Staat gefährdet? Und wie sollte eine liberale Partei aussehen? Schreiben Sie uns unter www.wiwo.de/forumderfreiheit