Liberalismus Die Idee der Freiheit

Keine politische Philosophie ist so kalt und inhaltsleer wie der Liberalismus – und keine zugleich so anspruchsvoll. Wahrscheinlich deshalb steckt die Idee der Freiheit ständig in der Krise.

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Große Liberale: Ludwig von Mises, Ralf Dahrendorf, John Stuart Mill Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-F031122-0017 - Engelbert Reineke - CC-BY-SA

Seine Feinde empfinden die Unbestimmtheit des Freiheitsbegriffs, die ihn auszeichnet, als Provokation ihres Weltverbesserungswillens - und dringen auf seine sozialmoralische Anreicherung. Und seine falschen Freunde verwechseln das Ideal der Selbstbestimmung, das ihn adelt, mit materieller Selbstbefriedigung - und verraten Authentizität und individuelle Freiheit ein Leben lang durch konfektionierten Konsum, berufliche Funktionalität und gesellschaftliche Selbsteinpassung. Offenbar sind wir alle zu schwach, um es auf Dauer mit der ambitionierten Gehaltlosigkeit des Liberalismus aufnehmen zu können.

Der Konservativismus und die Sozialdemokratie kennen derlei Probleme nicht. Beide politische Stilrichtungen verfügen über akklamationsfähige Inhalte, beide haben den Menschen etwas Bejahbares anzubieten, eine Projektionsfläche - eine Identität. Die Konservativen schöpfen aus dem reichen Reservoir der (nationalen) Kultur und Geschichte. Sie bauen auf Bewährtes, hüten die Tradition und pflegen die alten Werte, sie achten die Erfahrung, hegen überlieferte Ordnungen und vertrauen auf die zivilisierende Kraft gewachsener Institutionen.

Noch besser liegen die Dinge bei den Sozialdemokraten. Die haben immer die Zukunft, den Fortschritt und das große Ganze im Blick, die Gesellschaft, den Staat und den Weltfrieden. Sie erheben Utopia zum allgemeinen Menschheitsziel und dienen sich uns als Navigatoren auf dem Weg dorthin an; sie erobern täglich eine bessere Welt und eine schönere Zeit, immer unterwegs für uns und die gute Sache, angetrieben von der erneuerbarsten aller politischen Energien, der „Sozialen Gerechtigkeit“.

Allein der Liberalismus, der lässt uns im Stich. Der hält uns hinein in die Welt, wie sie ist und wir sie vorfinden - und gibt uns einen Stups. Der erteilt uns keine Ratschläge und weist uns keine Richtung, der gibt uns keinen Wink, kennt weder Herkunft, Weg noch Ziel. Der Liberalismus ist eine einzige Zumutung. Er zwingt uns die Freiheit auf, irgendwas aus ihr zu machen. Sie zu nutzen oder nicht.

Es fällt uns heute sehr schwer nachzuvollziehen, dass dieser durch und durch negative Freiheitsbegriff des Liberalismus einmal revolutionär aufgeladen war, dass sich mit ihm ein ideengeschichtliches Einmalereignis verbindet, eine gedankliche Innovation, die das Denken der Menschen vor zwei-, dreihundert Jahren erleuchtete und die politischen Verhältnisse auf den Kopf stellte. Der Liberalismus war damals eine politische Lehrformel, randvoll gefüllt mit fortschrittsbereiter Leidenschaft und hochfliegenden Hoffnungen, überall in Europa - ein avantgardistisches Programm, das praktisch auf die Begrenzung der absoluten Königs- und Fürstenmacht und die Überwindung des Feudalzeitalters zielte und theoretisch die zentralen Fragen der Neuzeit aufwarf: In welchem Verhältnis sollten künftig Gleichheit und Freiheit zueinander stehen, Individuum und Staat, Eigentum und Verantwortung?

Dabei bringt der Liberalismus von Anfang an das Kunststück fertig, das scheinbar Gegensätzliche spannungsreich in eins zu denken. Selbstverständlich stellt er die natürliche Gleichheit der Menschen der Freiheit voran, weil diese jene zur Bedingung hat. Und doch ist ihm zugleich nichts heiliger als die individuelle Freiheit, weil sich in ihr die Würde des Menschen ausdrückt. Ohne ihre innerliche und äußerliche Verfasstheit wiederum ist die Freiheit den Liberalen nichts wert: Die Energie, die sie entfaltet, will in zivilisierten Gesellschaften beherrscht sein und regiert werden, damit sie der Freiheit der anderen nicht in die Quere kommt. Gesichert ist die individuelle Freiheit daher nur, wenn es einen unparteiischen Rechtsstaat gibt, der die Freiheit aller sichert - und wenn „Eigentum“ in des Wortes anspruchsvollster Bedeutung gedacht wird: als Synonym für verantwortungsvollen Selbstbesitz. Bereits John Locke, der geistige Urvater des Liberalismus, trennt in seiner zweiten „Abhandlung über die Regierung“ (1690) scharf zwischen verantwortlicher Selbstaneignung (property) und dem Erwerb von materiellem Eigentum (estate, posession) - und erklärt die pflichtbewusste Inbesitznahme der property zur Zentralkategorie des Liberalismus, von der sich das Recht auf „life, liberty, and estate“ ableitet.

John Locke entwickelt hier unter dem Eindruck der Glorious Revolution (1688/89), die dem englischen Absolutismus ein Ende setzt und das Parlament zum Träger der Staatssouveränität auf der Grundlage der Bill of Rights erhebt, den wirkmächtigen Gedanken vorstaatlicher, unveräußerlicher Individualrechte. Dabei greift er einerseits auf die christliche Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott zurück, andererseits auf das humanistische Ideal der menschlichen Selbsterschaffung. Die Menschen, so Locke, seien von Natur aus mit elementaren Freiheitsansprüchen ausgestattet, die keine irdische Macht in Frage stellen dürfe. Der Staat sei nur ein Zweckverband zum gegenseitigen Schutz von „life, liberty, and estate“, nicht mehr und nicht weniger, ein Garant bürgerlicher, vorstaatlicher Freiheitsrechte, ohne positive Funktion und Bestimmung - nicht dazu da, um das Gemeinwohl zu fördern, sondern um allen Bürgern den Ertrag ihrer persönlichen Leistung (ihr Eigentum) zu sichern.

Es sind Gedanken, die auch ein knappes Jahrhundert später noch taufrisch sind und fast wörtlich in die Unabhängigkeitserklärung der USA (1776) einfließen: „We hold these truths to bei self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ Wobei das „Streben nach Glück“ im Sinne Lockes unbedingt zweifach betont werden muss: als Streben nach Glück - und als Streben nach Glück (happiness) im Sinne von Eigentum - nicht Reichtum (fortune).

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