Liberalismus Was Freiheit heute braucht

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Aber wie lässt sich Mills Freiheitsbegriff mit dem Prinzip der Bestandspflege vereinbaren, von dem das liberale Eigentum seit Wilhelm Röpke erzählt? Der Schlüssel liegt im Begriff der Verantwortung. Natürlich kann die "Schädigung anderer", die nach Mill die Grenze der Freiheit bezeichnet, heute aus jedem noch so geringfügigen Anlass nachgewiesen werden – ein Kohlekraftwerk in der Kamtschatka etwa schädigt die Lebensgrundlagen meines nichtgeborenen Enkels – und natürlich marschieren unsere politischen Schutzmächte täglich auf, um uns zu retten: vor Klimasündern, Bankberatern und unfair gehandeltem Kaffee. Die Aufgabe des Liberalismus bestünde nun darin, eine qualitative Bestimmung vorzunehmen: Welche Freiheiten schaden wirklich, welche sollen geduldet, welche unantastbar sein?

Der Philosoph Charles Taylor hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass der "negative" Freiheitsbegriff der Liberalen nicht aufrechtzuerhalten ist. Freiheit, so Taylor, sei "eine Praxis steuernder Kontrolle über das eigene Leben": Sie ist nicht gleichsam frei verfügbar, sondern eine "Fähigkeit, die wir zu verwirklichen haben". Sie besteht eben nicht in der Abwesenheit äußerer Hindernisse, sondern darin, dass wir bestimmten Zielen, auf die hin sie ausgerichtet ist, eine größere Bedeutung beimessen als anderen.

Freiheit benötigt Wahloptionen

Nordkorea zum Beispiel ist nicht deswegen ein liberaleres Land als Frankreich, weil die Freiheit der Autofahrer in Pyöngyang in Ermangelung von Ampeln größer wäre als die der Autofahrer in Paris – denn obwohl die Freiheit des Autofahrers in Paris täglich vor roten Ampeln kapituliert, nehmen wir ihren Verlust gleichmütiger hin als das Verbot, uns alle 1461 Tage eine neue Regierung wählen zu dürfen.

Und so in allem: Es ist nicht egal, ob ich meine musischen Talente schule oder bei "Deutschland sucht den Superstar" erprobe. Es ist nicht egal, ob ich bei einem Drogeriemarkt einkaufe, der seine Mitarbeiter anständig bezahlt – oder beim Ausbeuter nebenan.

Echte Freiheit ist echte Wahlfreiheit. Sie setzt nicht nur Optionen voraus, die ich ergreifen kann oder nicht, sondern die dreifache Fertigkeit, sie zu ergreifen, ihren Wert einzuschätzen – und meiner Entscheidung für die eine oder andere Option einen Sinn beizumischen. Selbst Mill hatte keinen Zweifel daran, dass Freiheit eine Richtung haben muss. "Individualität und Entwicklung" sind für ihn ein und dasselbe – allein ihre Pflege, schreibt er, bringe "wohl entwickelte menschliche Wesen" hervor.

Allen freiheitsfähigen Charakterköpfen rät er, den anderen "ein Beispiel zu geben für aufgeklärte Lebensführung, besseren Geschmack und Sinn im Menschenleben". Und natürlich hält er "Rat", "Belehrung", ja sogar "Überredung" für geeignete Mittel, um die Denkfaulen, Antriebsarmen und Freiheitsmüden auf Kurs zu bringen.

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