Luftverschmutzung Deutsche Großstädte verpesten ihre Luft

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Alle(s) für das Auto

Die meisten Stuttgarter haben für die tristen Werte ihrer Stadt bei den Vergleichen der Luftqualität eine einfache Erklärung: der Kessel. Das stimmt, einerseits. Die Innenstadt liegt topografisch an einer besonders ungünstigen Stelle. Vom Neckartal zweigt hier ein nur wenige Kilometer langer Seitenarm ab, in dessen Mitte sich das Zentrum Stuttgarts befindet. Das gibt der Stadt das Antlitz eines antiken Theaters. Offen in Richtung Norden reihen sich auf den hohen Rängen die Villen in ihren Logenplätzen aneinander, unten spielt die Musik. Ähnlich dem Theater ist zudem, wie gut dieser Kessel gefüllt ist, mit Menschen, Häusern und Autos.

Die deutschen Städte mit der höchsten Stickoxid-Belastung

Der Stadt fehlt es deshalb an Frischluftschneisen, durch die der Wind hindurchwehen könnte. Entsprechend häufiger kommt es zu dem, was Meteorologen eine „austauscharme Wetterlage“ nennen. Lage ist in diesem Falle so zu verstehen, wie es im Polizistenjargon gemeint ist: als Problem. Die Autos tragen den Dreck über ihre Abgase und den Abrieb der Reifen rein in die Stadt, der Kessel lässt ihn nicht wieder raus. Die Luftbelastung steigt. Allein im Januar herrschte an 17 Tagen diese ungesunde Situation.

So weit die topografische Erklärung, von der manche, vor allem ortsfremde Kenner des Problems sagen, dass sie eher eine Ausrede ist. Schließlich, so die Stuttgarter, könnten sie an ihren Hügeln nichts ändern, und so schlimm wie in Peking sei es ja nun auch wieder nicht. Also rein in den Porsche Cayenne, frischen Koriander in der Markthalle besorgen und noch ein bisschen bummeln im Gerber. So heißt eines von zwei großen Einkaufszentren, die in den vergangenen Jahren in Stuttgart zusätzlich eröffnet worden sind, mitten im Kessel – und mit ihnen über 2000 neue Parkplätze.

Denn zur Stuttgarter Wahrheit gehört auch: So schlecht es um die Versorgung der Innenstadt mit frischer Luft steht, so gut ist sie mit dem Auto zu erreichen, falls die Straßen mal frei sind. „Wie viele deutsche Städte wurde Stuttgart in weiten Teilen nach dem Ideal der autogerechten Stadt gebaut“, sagt Oberbürgermeister Kuhn.

Immer wenn in Stuttgart eine heikle Wetterlage herrscht, ruft die Stadt

Breite Einfallstraßen, großzügige Parkflächen in der Stadt. Bei Kuhn klingt das nach Vergangenheit, der Zeit vor der großen Einsicht. Doch wer stadtpolitische Diskussionen, ob in Stuttgart oder anderswo, aufmerksam verfolgt, der merkt, dass diese Einsicht bis heute nur rhetorisch stattgefunden hat. Andere Mobilitätsformen werden zwar gefördert, aber nur als Ergänzung, nicht anstelle des Autoverkehrs. Alle freuen sich über neue Radwege, aber nur so lange, wie dafür die Straße nicht schmaler werden soll. Deshalb nennt Kuhn es ein „didaktisches Experiment“, was er da gerade in Stuttgart versucht.

Für die Dieselfahrer in der Stadt könnte man auch sagen: ihre Galgenfrist.

Für sein didaktisches Experiment setzt Kuhn deshalb alles ein, um die Bürger ohne Zwang zur Verhaltensänderung zu bewegen. Immer wenn in Stuttgart eine heikle Wetterlage herrscht, ruft die Stadt „Feinstaubalarm“ aus. Auf Autofahrten in die Stadt soll dann verzichtet werden, auch holzbefeuerte Kamine nur bei echtem Bedarf genutzt werden. Die Anreize dafür sind ziemlich hoch: Die Bahnen fahren häufiger, die Tickets kosten die Hälfte, auch die elektrische Carsharing-Flotte in der Stadt kann günstiger gemietet werden. Für den Oberbürgermeister ist es eine Gratwanderung: Im besten Falle gelingt es ihm, dass das Bestreben nach sauberer Luft zu einem gemeinsamen Anliegen wird. Im schlechteren lehnen sie es als Umerziehungsmaßnahme ab. Die Autofahrt am Alarmtag, sie würde im einen Falle zum Grund für ein schlechtes Gewissen, im anderen zum stolzen Akt zivilen Ungehorsams.

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