Mächtiger Gewerkschaftsboss Das Netzwerk von Michael Vassiliadis

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Es geht um gemeinsame Interessen

Bayer - mehr als 150 Jahre Unternehmensgeschichte
Bayer blickt zurück auf eine wechselvolle Geschichte. Der Konzern hat bahnbrechende Medikamente wie Aspirin erfunden, aber auch Heroin als Arznei verkauft. Bayer schuf bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Wohltaten für die eigenen Mitarbeiter, gründete Sportvereine und Werksbüchereien - und rekrutierte andererseits als Teil der I.G. Farben während des Zweiten Weltkrieges Tausende Zwangsarbeiter, die unter menschenunwürdigen Bedingungen schufteten. Wie alles begann... Quelle: dpa
1863Am 1. August gründen der Kaufmann Friedrich Johann Bayer und der Färber Johann Friedrich Weskott die "Friedr. Bayer et comp.". Sitz der Gesellschaft ist Wuppertal, Zweck die Produktion von Farbstoffen. Quelle: Presse
1876Das junge Unternehmen expandiert rasch im Ausland. Erste Produktionsbetriebe entstehen – zunächst in Russland, später auch in Frankreich, England und den USA. Quelle: Presse
1898Das Unternehmen lässt sich Heroin als Warenzeichen schützen. Den Bayer-Chemikern gilt Heroin als ungefährliches, nahezu nebenwirkungsfreies Medikament, das die Atmung beruhigt. Nach der Einnahme sollen sich die Bayer-Arbeiter "heroisch" gefühlt haben - davon soll sich der Name Heroin ableiten. Bis 1915 produziert die Farbenfabrik jährlich eine knappe Tonne Heroin; das angebliche Medikament wird bald in 22 Länder exportiert. Erst 1931 stellte Bayer die Produktion ein. Quelle: Gemeinfrei
1899Unter der Nummer 36433 wird das Medikament Aspirin in die Warenzeichenrolle des Kaiserlichen Patentamtes in Berlin aufgenommen. Entdeckt wurde Aspirin von dem jungen Chemiker und Pharmakologen Felix Hoffmann, der seinem rheumakranken Vater mit einem Antischmerzmittel helfen wollte. Bis heute ist Aspirin das bekannteste Bayer-Produkt. Quelle: Creative Commons-Lizenz
1904Die Bayer-Arbeiter bekommen einen Sportverein. Der TuS 04 Leverkusen gründet sich – der Vorläufer des heutigen TSV Bayer 04 Leverkusen, der vor allem durch seine Fußball-Bundesligamannschaft bekannt ist. Quelle: Presse
1912Carl Duisberg wird Generaldirektor, Leverkusen Firmensitz. Der Standort Wuppertal ist zu klein geworden; Duisburg entwickelt einen Plan für ein neues Chemiewerk in Leverkusen. Die Wahl des neuen Hauptstandorts stößt nicht überall auf Begeisterung. Bayer-Arbeiter reimen ein Klagelied: "Kann er einen nicht verknusen, schickt er ihn nach Leverkusen. Dort, an diesem End der Welt, ist man ewig kaltgestellt." Quelle: Gemeinfrei

Ein typischer Tag für Vassiliadis verläuft so wie der in Leverkusen. An diesem Aprilmorgen empfängt er zum Frühstück im Hotel den Bayer-Betriebsratschef Thomas de Win. Um zehn Uhr geht es in die Konzernzentrale, hier sind für ihn die Leiter der Bayer-Verbindungsbüros Brüssel und Berlin angereist. Um zwölf Uhr empfängt ihn Vorstandschef Marijn Dekkers zum Lunch im Direktionszimmer des Bayer-Kasinos. Dekkers weiß um den Einfluss seines Gegenübers: Gerade erst haben IG-BCE-Kandidaten bei den Betriebsratswahlen bei Bayer rund 70 Prozent der Mandate geholt. Nach dem Essen hat Vassiliadis ein Gespräch mit Arbeitsdirektor Michael König, dann rauscht er ab ins Landwirtschaftszentrum Monheim, wo rund 80 Bayer-Betriebsräte, eingerahmt von Gemüsefotos, eine Tagung abhalten und auf ihn warten.

Es werden an diesem Tag keine Deals besprochen und keine Papiere vorgelegt. Es geht um das Sondieren gemeinsamer Interessen in der Energiepolitik, um Gesundheitsschutz und mögliche Allianzen, wenn die Politik mal wieder Unfug beschließen will. Am Ende hat man sich besser kennengelernt – was sich später mal für beide Seiten lohnen könnte.

Das Auto als Büro

Aber solche Tage sind anstrengend. Es gibt Wochen, da kommt Vassiliadis nur am Montagvormittag in die IG-BCE-Zentrale am Königsworther Platz in Hannover. Dann ist der Rastlose im „Stakkato-Modus“, wie er es nennt, es reiht sich ein Termin an den nächsten. Sein silbergrauer Audi A8 dient als Büro und Garderobe, wo frische Hemden und unzerknitterte Anzüge lagern. Mit seinem Chauffeur, einem Ex-Bundesligaprofi mit sportlichem Fahrstil, reißt er so über 100 000 Kilometer im Jahr ab. Der Lohn dafür: 10 500 Euro im Monat, das ist etwa die Hälfte dessen, was IG-Metall-Chef Wetzel verdient. Seine Aufsichtsratstantiemen von jährlich rund 490.000 Euro führt er zu 90 Prozent an die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung ab.

Nur jedes zweite Wochenende hält er sich frei. Dann kommen seine beiden Söhne zu Besuch nach Hannover-Linden, wo sich Vassiliadis nach der Scheidung von seiner Frau eine Eigentumswohnung gekauft hat. In dem Altbau lebt der E-Gitarrensammler nun Tür an Tür mit seiner neuen Lebensgefährtin. Sie heißt Yasmin Fahimi, hat neun Jahre die IG-BCE-Grundsatzabteilung geleitet – und ist seit Januar Generalsekretärin der SPD. Auch wenn Vassiliadis beteuert, man rede zu Hause nicht über Berufliches: Seinem Zugang in die Beletage von SPD und Regierung dürfte die Beziehung nicht eben schaden.

Vassiliadis ist der erste Gewerkschaftschef in Deutschland mit Migrationshintergrund. Seine Mutter stammt aus dem Ruhrgebiet, sein Vater kam 1961 als Gastarbeiter aus Athen und malochte 27 Jahre als Schichtarbeiter bei Bayer. Vassiliadis wuchs in einer Werksiedlung in Dormagen auf; nach dem Realschulabschluss machte er eine Ausbildung zum Chemielaboranten und arbeitete drei Jahre bei Bayer. 1986 ging er als Hauptamtlicher zur IG Chemie, wo er sich stetig nach oben arbeitete. 2009 rückte Vassiliadis, gefördert vom damaligen Chef Schmoldt, an die Spitze.

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