Marcel Fratzscher und Sahra Wagenknecht "Der Kampf tobt doch längst"

Der Ökonom Marcel Fratzscher und die Politikerin Sahra Wagenknecht beklagen den Zustand des Kapitalismus. Ein Gespräch über die neuen Verteilungskämpfe.

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Marcel Fratscher und Sarah Wagenknecht beklagen den Zustand des Kapitalismus. Quelle: Andreas Chudowski für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Frau Wagenknecht, Herr Fratzscher, brauchen wir wirklich eine Gerechtigkeitsdebatte? Das Land leidet unter ideologischer, nicht materieller Spaltung.

Wagenknecht: Vieles, was sich in den aktuellen Wahlergebnissen und dem Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) zeigt, ist das Ergebnis einer extrem vergrößerten sozialen Kluft. Die Mitte ist abstiegsgefährdet, Armut – auch in Arbeit – wächst.

Wenn das so wäre, hätten die Menschen Linkspartei gewählt, nicht AfD.

Wagenknecht: Viele Leute verbinden uns mit der Position: Grenzen auf. Die Flüchtlinge empfinden sie aber als Konkurrenz, auf Wohnungs- oder Arbeitsmarkt.

Zu den Personen

Also hat SPD-Chef Sigmar Gabriel recht, wenn er Sozialprogramme für Deutsche fordert?

Fratzscher: Der Verteilungskampf tobt doch längst. Und ein Teil der Politik gibt sich alle Mühe, ihn zu schüren. Ein großer Teil dieses Verteilungskampfes ist aber unnötig. Der Staat hat genug Geld, um die dringend notwendigen Investitionen in Bildung und Infrastruktur zu erbringen, die bereits seit vielen Jahren fehlen. Aber statt die für Wirtschaft und Gesellschaft schädlichsten Probleme anzugehen – die steigende Ungleichheit und die sinkende Chancengleichheit –, verteilt die Politik Wahlgeschenke.

Wo fließt das Geld denn hin, wenn es nicht ankommt?

Fratzscher: Diese Regierung hat in den letzten zweieinhalb Jahren, etwa über die Rentenreform, innerhalb der Mittel- und Oberschicht massiv umverteilt. Aber unten kommt nichts an. Und vor allem fehlen solche Reformen, die die Wirtschaftskraft nachhaltig stärken.

Mindestlohn, Rentenreform, Leiharbeitsregulierung: Die Umverteilungsmaschine läuft auf vollen Touren.

Fratzscher: Aber das ändert nichts am Hauptproblem: die fehlende Chancengleichheit und geringe soziale Mobilität. Wir legen Menschen aus schwierigen Verhältnissen von Beginn an Steine in den Weg: schlechte Kita-Versorgung, zu wenige Ganztagsschulen, ein undurchlässiges Schulsystem. Und dann sagen wir ihnen: Jetzt haben Sie es nicht geschafft, wir bieten Ihnen Hartz IV. Immer weniger Menschen haben die Chance, von ihrer Hände Arbeit leben zu können. Das ist weder sozial noch marktwirtschaftlich sinnvoll und hat wenig mit dem zu tun, was sich Ludwig Erhard unter der sozialen Marktwirtschaft vorgestellt hat.

Es gibt so viele Jobs wie nie.

Fratzscher: Ja, aber mit vielen dieser Jobs kann man nicht zufrieden sein. Fast die Hälfte der Menschen hat niedrigere Reallöhne als vor 15 Jahren. Wir sind nicht der Superstar in Europa, der alles richtig gemacht hat. Die hohe Ungleichheit und das geringe Wachstum in Deutschland haben beide die gleiche Ursache: eine immer schlechter funktionierende Marktwirtschaft und weniger Wettbewerb in Deutschland.

Frau Wagenknecht, haben Sie Herrn Fratzscher schon einen Mitgliedsantrag für Ihre Partei ausgehändigt?

Wagenknecht: Ich bin froh, dass die Ungleichheit nun prominent angesprochen wird. Aber mir reichen seine Vorschläge nicht aus. Viele der Probleme haben mit dem Kapitalismus selbst zu tun. Je unregulierter er wurde, desto größer wurde die Ungleichheit.

Fratzscher: Das Problem ist doch nicht der Kapitalismus an sich, sondern, dass viele Menschen keine realistische Chance mehr haben, sich besserzustellen als ihre Eltern. Das war lange Zeit die Idee der sozialen Marktwirtschaft, aber die funktioniert nicht mehr. Heute haben wir Menschen, die über Generationen hinweg in Armut oder Reichtum bleiben – öfter als in fast jedem anderen Land der entwickelten Welt. In den USA sind die besten Schulen und Unis privat. Man würde denken, dass das negativ für Chancengleichheit ist. Wie aber kann es sein, dass in Deutschland die Chancengerechtigkeit nicht besser ist, obwohl Bildung die Aufgabe des Staates ist?

Wagenknecht: Das ordoliberale Konzept war geprägt vom Wissen, dass Märkte von sich aus keine Strukturen schaffen, die zu Leistungsgerechtigkeit führen, sondern dass Märkte einen Rahmen brauchen. Und der ist zerstört worden.

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