Martin Schulz Ein Vollblut-Europäer für Berlin

Der ehemalige Präsident des Europaparlaments soll Kanzlerkandidat der SPD werden. Auch politische Konkurrenten bescheinigen dem 61-Jährigen „herausragende Arbeit“. Jetzt beginnt der Wahlkampf in Deutschland.

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Er soll Kanzlerkandidat der SPD werden. Quelle: dpa

Berlin Es kommt nicht oft vor, dass ein CSU-Politiker für einen SPD-Mann nur freundliche Worte findet. Doch als Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament, im November den Abschied von Martin Schulz in die Berliner Bundespolitik kommentiert, spricht er von einer „herausragenden Arbeit und einem herausragenden Engagement für Europa“. Er nennt Schulz einen „kraftvollen und durchsetzungsstarken Europäer“, der mit Leidenschaft für das EU-Parlament gekämpft und dessen Bedeutung gestärkt habe.

Dieser Vollbut-Europäer soll nun nicht nur anstelle von Sigmar Gabriel Chef der SPD werden, sondern die Sozialdemokraten als Kanzlerkandidat auch in den Bundestagswahlkampf gegen die CDU-Vorsitzende Angela Merkel führen.

Leidenschaft und Kampfeswillen würden dem 61-Jährigen wohl nicht einmal diejenigen in Brüssel absprechen, die von seiner Dauerpräsenz vor allem in deutschen Medien wenig angetan gewesen sind. Eine Verletzung machte seine Pläne einer Karriere als Fußballer in den 1970er Jahren zunichte. Aus seiner Alkoholabhängigkeit als junger Mann macht der gelernte Buchhändler keinen Hehl, der wenige Jahre nach dem Überwinden der Sucht Bürgermeister von Würselen in Nordrhein-Westfalen wurde.

Nach seinem Wechsel ins EU-Parlament wurde er 2003 über die Grenzen des Brüsseler Politikbetriebs hinaus durch einen verbalen Schlagabtausch bekannt, den er sich mit dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi lieferte. So regte Berlusconi an, der Deutsche könne in der Rolle als KZ-Aufseher in einem italienischen Film mitwirken. Schulz antwortete, sein Respekt vor den Opfern des Faschismus verbiete es ihm, darauf einzugehen.

Auch nach seiner Wahl zum EU-Parlamentspräsidenten 2012 schreckten Schulz keine großen Namen oder noch größere Aufgaben. Auf ihn geht die Idee des Spitzenkandidaten zurück, mit denen die europäischen Parteienfamilien in den Europawahlkampf 2014 zogen.

Doch nicht Schulz, sondern der Kandidat der EVP, Jean-Claude Juncker, ging daraus als Sieger hervor und übernahm nach zähem Ringen mit den Regierungen der EU-Staaten das Amt des EU-Kommissionspräsidenten. Im Wahlkampf noch politische Gegner, beschlossen Juncker und Schulz anschließend, gemeinsam die beiden EU-Institutionen und damit die Idee der immer enger zusammenwachsenden EU gegenüber den Mitgliedsländern zu stärken.

Wieviel Schulz die Freundschaft zu Juncker im von Machtspielen geprägten Brüssel bedeutet, ließ er im Frühjahr 2016 bei einem Empfang mit deutschen Journalisten durchblicken: "Ein wahrer Freund ist der, der kommt, wenn andere gehen", sagte der SPD-Mann an die Adresse des Luxemburgers gerichtet. Diese Freundschaft wird womöglich auf die Probe gestellt, wenn Schulz als Kanzlerkandidat und möglicherweise als Wirtschaftsminister die Interessen Deutschlands in den Vordergrund rücken muss.

Den 28 Staats- und Regierungschefs der EU warf er oft genug vor, diesen Spagat zwischen Heimatland und Europa nicht hinzubekommen, wenn er bei den EU-Gipfeln selbstbewusst vor sie trat und ihnen seinen Standpunkt mitteilte.

Schulz wäre der erste deutsche EU-Spitzenpolitiker, der nach seiner Zeit in Brüssel ein führendes Amt in der Bundesregierung übernehmen würde. Aktiv schaltete er sich vor allem in den Schuldenstreit der Euro-Länder mit Griechenland und die Flüchtlingskrise ein, obwohl er formal als EU-Parlamentspräsident keine Entscheidungsgewalt jenseits seines Hauses hat. So reiste er mehrmals nach Athen, um dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras im Schuldenstreit ins Gewissen zu reden und verurteilte scharf die Weigerung osteuropäischer Länder, Flüchtlinge aufzunehmen.

Auch Schulz konnte indes nicht verhindern, dass die Briten für einen EU-Austritt stimmten oder Anti-EU-Populisten in vielen Ländern der Gemeinschaft immer mehr Zustrom erhielten. Und dass sich der Literaturliebhaber in Brüssel nicht nur Freunde gemacht hat, ist an manchen Reaktionen nach Bekanntgabe seines Weggangs abzulesen. „Schulz verzichtet auf ein Amt, auf das er schon vor zweieinhalb Jahren verzichtet hat. Tolle Neuigkeit!“ twitterte etwa der CSU-Abgeordnete Markus Ferber.

Europas Grünen-Chef Reinhard Bütikofer warf Schulz vor, in der zweiten Amtszeit so viele Abgeordnete gegen sich aufgebracht zu haben, dass eine erneute Wiederwahl unmöglich geworden sei. „Wir wünschen uns einen neuen Präsidenten, der inklusiv arbeitet und nicht sich selbst mit dem Europäischen Parlament verwechselt“, zürnte Bütikofer. Ausgerechnet der Berlusconi-Vertraute Antonio Tajani muss als EU-Parlamentspräsident beweisen, dass er Schulz in dieser Hinsicht übertrifft.

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