Milliarden-Prozess Die Maut-Helden

Im Streit um die rechtzeitige Einführung der LKW-Maut hat der Bund bereits mehr als 200 Millionen Euro für Anwälte ausgegeben. Rechenschaft will die Regierung nicht ablegen. Die Geschichte eines Schweige-Kartells.

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Seit Jahren treibt Toll Collect die Nutzungsgebühren für deutsche Autobahnen und Fernstraßen ein. Quelle: obs

Der Bundesverkehrsminister zeigte sich siegesgewiss. „Ich bin überzeugt, dass die Kasse klingeln wird.“ Das Schiedsverfahren unter dem Vorsitz des Bundesgerichtshof-Präsidenten Günter Hirsch werde schnell enden. „In Monaten sind wir soweit.“

Die Aussagen sind inzwischen 147 Monate alt. Der Minister hieß in jenem April 2005 Manfred Stolpe (SPD). Weil der Automobil-Konzern Daimler und das Staatsunternehmen Deutsche Telekom mit der Technik des weltweit ersten satellitengestützten LKW- Mautsystem Probleme hatten und erst 16 Monate später als bestellt starten konnten, verlangte der Bund 3,3 Milliarden Euro entgangene Einnahmen zuzüglich 1,6 Milliarden Euro Vertragsstrafen und Zinsen. Mit der sehr hohen Forderung trat Stolpe das wohl peinlichste Schiedsverfahren los, das die Bundesrepublik je gegen heimische Großkonzerne geführt hat.

Die Kombattanten streiten bis heute. Richter Hirsch hat längst die Segel gestrichen. Inzwischen leitet Wolfgang Nitsche die Runde. Auch der Umstand, dass unter den Schiedsrichtern mit Horst Eidenmüller und Claus-Wilhelm Canaris von Anbeginn Koryphäen für Vergleiche sitzen, hilft offenkundig nicht.

Details erfährt man offiziell nicht. Das Verfahren ist streng geheim, ebenso sind es die Verhandlungsorte und die Termine. Alle Beteiligten unterliegen der Schweigepflicht. Auch der Bund will sich nicht detailliert rechtfertigen. Dabei hat der Steuerzahler bereits mehr als 200 Millionen Euro für Anwälte und Gutachter berappen müssen. Die Konzerne dürften ähnlich hohe Rechnungen beglichen haben.

Auf Nachfrage verweist der Bund auf das laufende Verfahren und schweigt. Auch Daimler und Telekom fehlen die Worte um zu erklären, warum das Verfahren kein Ende findet. Für eine Antwort benötigen die Konzerne vier Tage. An einem Samstagabend, gegen 19.30 Uhr, landen zwei wortgleiche Antworten im elektronischen Briefkasten: „Das Schiedsverfahren dauert aus diversen Gründen schon sehr lange“, teilen die Sprecher der Unternehmen mit. Und weiter: „Ein zügiges Ende des Schiedsverfahrens ist aus unserer Sicht für alle Beteiligten wünschenswert und wir wirken – soweit es in unserer Macht steht – daran mit.“

Das klingt nach Einigung. Bis heute aber ist ungeklärt, wer welche Schuld auf sich geladen hat und wie eine Einigung aussehen könnte. Neu ist indes, dass Daimler und Telekom ein schnelles Ende des Verfahrens anstreben. Das war nicht immer so. Doch es gibt neue Umstände: 2018 wird der Maut-Markt neu sortiert: Der Betreibervertrag endet, der Bund schreibt gerade die Anteile an dem Gemeinschaftsunternehmen Toll Collect aus. Die Konkurrenz aus dem Ausland wartet nur darauf, dass Daimler und Telekom von Bord gehen und sie den zentralen Markt in Europa übernehmen und selbst für weitere zwölf bis 15 Jahre betreiben können.

Es ist absurd: Zwar klingelt nicht seit 2003 die Kasse beim Bund, wohl aber seit 2005. Mehr als 40 Milliarden Euro LKW-Maut hat Toll Collect seitdem kassiert und überwiesen. Die LKW-Maut ist längst für jeden Verkehrsminister – nach Stolpe auch für Wolfgang Tiefensee, Peter Ramsauer und Alexander Dobrindt – eine wichtige Einnahmequelle. Das System treibt derart solide den Wegezoll ein, dass Toll Collect es auf Wunsch der Minister sogar ausgeweitet hat: von Autobahnen auf bald alle Bundesstraßen, von LKW ab 12 Tonnen auf jene ab 7,5 Tonnen Gewicht und womöglich nach der Wahl auf 3,5-Tonner oder später vermutlich auch auf Autos.

Trotzdem gibt es bis heute keine gütliche Einigung und wegen des Rechtsstreits nicht einmal eine endgültige Betriebserlaubnis für Toll Collect. Im Gegenteil: Vor dem Gericht entsteht der Eindruck, das Unternehmen sei nicht einmal in der Lage, Rechnungen ordentlich zu schreiben. Seit 2014 steht vor dem Gericht der Vorwurf im Raum. Das geht aus Protokollen des Bundes hervor, die dem Handelsblatt vorliegen. Die Folge: Das Gericht bestellte 2015 Wirtschaftsprüfer von Roever Broenner Susat Mazars, die „zehntausende“ Buchungen prüfen, wie das Verkehrsministerium bestätigt hat. Zwei bis drei Jahre sollte die Stichprobe aus drei Geschäftsjahren dauern. Inzwischen ist von weit mehr Prüfungen die Rede. Dabei wollte das Gericht 2014 endlich zum Ende kommen.

Beide Seiten bombardieren sich lieber gegenseitig und tricksen wie vor ordentlichen Gerichten. Die Überprüfung der Rechnungen war da nur ein Punkt. Es fing damit an, dass bereits 2006 ein zweites Verfahren nötig wurde, weil der Bund von Toll Collect Vergütung vorsorglich einbehielt und der Mautbetreiber klagte. Seither sind zwei Schiedsverfahren anhängig. Inzwischen will das Gericht erst das zweite Verfahren entscheiden, danach das ursprüngliche. Schließlich müsse ja der einbehaltene Teil und deren Rechtmäßigkeit auf den streitigen Schadensersatzanspruch des Bundes angerechnet werden, sollte der bestehen. Der Bund behält seit 2006 jeden Monat acht Millionen von der Vergütung für Toll Collect ein. Inzwischen sind es weit mehr als eine Milliarde.

Zu den Tricks der Anwälte gehört auch, die Unbefangenheit des Gerichts infrage zu stellen. Erst kürzlich mussten die Schiedsrichter einen umfangreichen Fragenkatalog beantworten. Obendrein sind die Richter nicht immer einig. Und als würde das nicht Zeit und Geld kosten, sorgte erst kürzlich die Anzeige eines ehemaligen Mitarbeiters von Toll Collect für Aufsehen, weil die Staatsanwaltschaft ermittelte und medienwirksam die Firmenräume durchsuchte. Seither besteht der Verdacht, das Unternehmen hätte auch bei der Ausweitung des Systems auf Bundesstraßen überhöhte Kosten in Rechnungen gestellt. Wie dies aber geschehen sein soll, ist ein Rätsel: Nach Informationen des Handelsblatts aus Regierungskreisen hatten Toll Collect und der Bund einen Vertrag mit einem Festpreis vereinbart, der gezahlt wurde. Aber es passt in die Reihe der Vorwürfe und erhöht den Druck im Verfahren, was eine schnelle Einigung verhindert.


Öffentliche Großaufträge in Aussicht

Für gewöhnlich sollen Schiedsverfahren vor allem für eine schnelle Einigung ohne öffentliches Tamtam sorgen, gerade, wenn es um sensible Geschäftsgeheimnisse geht. „Bei hohen Streitsummen gibt keine Seite gern nach", sagt Oliver Wieck von der deutschen Sektion der internationalen Handelskammer ICC. „Wenn es in solchen Fällen keine enge Begleitung durch die Schiedsinstitution gibt, dann sind sich die Parteien und die Schiedsrichter selbst überlassen.“ Beim ICC achtet der internationale Schiedsgerichtshof darauf, dass die Verfahren zügig zum Ende kommen. Bei Verfahren bis zu einem Streitwert von zwei Millionen US-Dollar müssen die Schiedssprüche binnen sechs Monaten erfolgen. Der Richter entscheidet auch über die Beweisaufnahme und deren Ende. „Bei höheren Streitwerten kann es auch zwei Jahre und mehr dauern“, sagt Wieck. Aber: Alle Beteiligten streben ein Ergebnis an. Das Maut-Schiedsgericht hingegen tagte überhaupt erst nach fast drei Jahren zum ersten Mal.

Nachfrage bei den Anwälten. Vielleicht können sie erklären, warum der Streit nach so langer Zeit nicht endlich beigelegt wird. Ob es nur daran liegt, dass sie blendend verdienen, wie Beobachter vermuten und selbst daher gar kein Interesse haben, dass der stete Geldfluss versiegt? Pro Stunde erhalten sie 500 Euro und mehr. Sie sind meist bei den Verhandlungen unter sich, nur selten erscheinen Vorstände der Unternehmen oder gar ein Staatssekretär des Bundes. Meist schauen Vertreter ohne Prokura dem Spektakel zu und dürfen einschreiten. Nur selten haben die Konzerne etwa ihre Compliance-Vorstände geschickt, wie 2014, als sich Thomas Kremer von der Telekom Sitzungen anhörte oder auch die damalige Vorständin Christine Hohmann-Dennhardt für Daimler. Sie wechselte später zu Volkswagen, wo sie nach nur einem Jahr ausschied und mit ihrem Rekordgehalt öffentlich für Wirbel sorgte. Sie soll etwa 2014 „während der Verhandlung den Anwälten von Toll Collect zahlreiche Verhaltensanweisungen“ erteilt haben, wie der Vertreter des Verkehrsministeriums damals protokollierte. Offenkundig hat dies aber nicht dazu geführt, dass diese ein Ende des Verfahrens herbeiführten.

Nach außen geben sich die Anwälte verschlossen und verweisen auf die anwaltliche Schweigepflicht, verraten nicht einmal, wie viele Anwälte das Thema bearbeiten. Vielleicht, weil es pro Kanzlei teils mehr als zehn Top-Juristen sind? Die jüngste Verhandlungsrunde fand im März in München statt: Vorne saßen die drei Schiedsrichter. Je zwei Tischreihen waren für die Anwälte nötig. Die teuersten Wirtschaftskanzleien liefen in Mannschaftsstärke auf: Beiten Burkhardt und Linklaters für den Bund sowie Latham & Watkins für Daimler und Hengeler Mueller für die Telekom.

Darüber hinaus gibt es genügend andere Fragen an die Anwälte: Warum etwa hat ein Anwalt des Bundes inzwischen noch die Kanzlei seines Sohnes mitbeauftragt? Oder: Warum beschäftigt der Bund nicht selbst qualifizierte Fachleute, die das Verfahren begleiten, kontrollieren und nach einer Lösung suchen? Und vor allem: Warum wurde das bislang einzige Vergleichsangebot des Schiedsgerichts verworfen, schlimmer noch, gar nicht erst geprüft, wie mit dem Verfahren Betraute berichten?

2014 fragte Richter Hirsch, ob die Parteien nun den Zeitpunkt für einen Vergleich gekommen sähen. Es kam nicht dazu. Laut Protokollen des Bundes hatte er bereits im Dezember 2010 und August 2011 gefragt, damals lehnten die Unternehmen ab. Der Bund hingegen habe „immer seine Bereitschaft zu einem Vergleich erklärt“. Mit einem richterlichen Vergleich hätte er die Grundlage erhalten, „die teuren und langwierigen Schiedsverfahren kurzfristig zu beenden“ und vor den Haushältern und der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Ein Vergleich wäre schließlich bindend, wie aus dem geheimen Maut-Betreibervertrag unter dem Buchstaben V.2 hervorgeht. Danach können „alle“ Streitigkeiten vor einem Schiedsgericht „unter Ausschluss des Rechtsweges endgültig entschieden“ werden. Zwei Vorschläge der Konzerne für einen außergerichtlichen Vergleich hatte der Bund indes beide Male mit Erlassen aus dem Kanzleramt abgelehnt, um dem Vorwurf der „Kungelei zwischen Bund und Toll-Collect-Konsorten“ aus dem Weg zu gehen, wie es in einem der Protokolle heißt.

Längst ist es auch den Parteien unangenehm, dass alles unter dem Deckel gehalten wird. Das zeigte sich 2015. Wenige Tage vor einem neuerlichen Sitzungsmarathon hatte es Medienberichte mit Indiskretionen gegeben. Gleich zu Beginn der Verhandlung diskutierten Anwälte und Richter, ob nicht ein wenig Öffentlichkeitsarbeit guttäte. Die Prozessvertreter des Bundes räumten ein, es sei verständlich, „dass es nach zehn Jahren Verfahrensdauer ein Interesse der Öffentlichkeit an den Gründen“ gebe und schlugen eine „objektive Pressemitteilung“ des Ministeriums vor. Die Vertreter von Toll Collect bestanden auf eine gemeinsame Erklärung. Daraufhin hatte der vom Bund benannte Schiedsrichter Horst Eidenmüller vorgeschlagen, das Gericht zu ermächtigen. „Die Parteien äußerten, dass dazu noch ein Entscheidungsprozess der Parteien erforderlich sei“, heißt es in dem Protokoll des Bundes. Inzwischen sind zwei Jahre vergangen, eine Pressemitteilung gab es bis heute nicht.

Stattdessen hüllen sich die Maut-Helden weiter in Schweigen. Die Schweigepflicht ist umfangreich und gilt auch „nach dem Ausscheiden aus dem Schiedsverfahren“, wie etwa selbst der ehemalige Schiedsrichter Günter Hirsch auf Nachfrage erklärt. Er hat längst frustriert aufgegeben.

Tausende Seiten Akten liegen vor, unzählige Schriftsätze, Anträge und Gegenanträge. Jedes Mal dauert es wieder Monate, bis eine Seite auf die andere erwidert und es zu einem neuen Treffen kommt. Dann immer wieder tagelang die gleichen Fragen, garniert mit neuen Schuldzuweisungen. Darüber danach aber Schweigen. „Es dreht sich im Kreis“, berichtet ein Beteiligter.

Dieser Zustand aber ist inzwischen fatal. Denn das Verfahren belastet die Ausschreibung der Geschäftsanteile. Zwar soll der neue Anteilseigner freigestellt sein von Altlasten. Aber Daimler und Telekom tragen sie im Gepäck während sie sich auch um die Anteile bewerben. Es geht auch um Industriepolitik. Wie es in Regierungskreisen heißt, hat der Bund derzeit kein Interesse an einer Einigung – noch nicht. Auf Nachfrage deutete ein Sprecher von Minister Dobrindt an, dass das Ministerium davon ausgehe, „dass die im Schiedsverfahren geltend gemachten Ansprüche berechtigt sind und verfolgt diese weiterhin mit Nachdruck“. Dazu passt, dass die Anwälte des Bundes erst kürzlich Aufschub erbeten haben, um mehr Zeit für eine Stellungnahme zu erhalten. Angesichts der Zahl der beschäftigten Anwälte verwunderlich; politisch aber macht es Sinn: Ende September und damit nach der Bundestagswahl soll die nächste Verhandlungsrunde stattfinden, wie es heißt. So muss Minister Dobrindt nicht schon im Wahlkampf einen möglichen Vergleich rechtfertigen. Danach aber ist Eile geboten: Die Geschäftsanteile an Toll Collect sollen im Frühjahr 2018 neu vergeben werden. Das, so heißt es innerhalb des Umfelds von Minister Dobrindt, sei ein guter Zeitpunkt, einen Vergleich anzustreben und dann Ende August 2018 mit dem neuen – oder alten – Betreiber unbelastet zu starten.

Dem winken dann goldene Zeiten: Schließlich will die Europäische Union EU-weit eine streckenbezogene Maut für alle einführen, so wie sie in Deutschland betrieben wird. Deutschland hat der Kommission bereits zugesagt, die Einführung zu unterstützen – und damit auch indirekt den deutschen Betreiber. Hinzu kommt noch, dass Dobrindt auch den Betrieb der Ausländer-Maut ausgeschrieben hat und es wenig Sinn macht, zwei unterschiedliche Systeme für ein und denselben Zweck zu betreiben. Vielleicht hilft diese Aussicht beiden Seiten, sich für alle zufriedenstellend zu verständigen.

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