Mindestlohn-Entscheidung Was 8,84 Euro für den Osten bedeuten

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Falscher Fortschritt

Auf ihre Mitarbeiter lässt Gröger dabei nicht das Geringste kommen, sie gönnt ihnen jeden Euro. Das ist ihr wichtig. Aber in ihrem Geschäft bestimme am Ende eben der Gast, wo die Grenzen des Möglichen liegen. Das Kalbssteak mit Tomaten-Orangenchutney kostet bei ihr 22,50 Euro, der Zander mit Blutwurstravioli 20,50 Euro. Die meisten Touristen finden das in Ordnung und genießen die Aussicht, aber die einheimischen Stammgäste zögern doch merklich - und Gröger hat dafür absolut Verständnis.

Es bleibt ihr nur keine andere Wahl. Auch Gröger schaffte es - ganz ähnlich wie Olaf Buchholz in seiner Bäckerei -, ohne Entlassungen auszukommen, weil sie die Preise erhöhte, Ruhetage einführte und Arbeitszeiten reduzierte. Sie drehte an allen Schräubchen, die sie finden konnte. Immer in der Hoffnung, nirgendwo zu überdrehen.

Etwas hat sich fundamental verändert mit dem Mindestlohn; etwas, das sich nicht in einer Arbeitslosenstatistik ausdrücken oder in BIP-Daten ablesen lässt. Die Entfremdung und der Zorn kamen schleichend. Man bemerkt das erst, wenn man mit Unternehmerinnen wie Regina Gröger spricht: Es geht in vielen, vor allem ostdeutschen Branchen wie der Gastronomie, den Bäckereien oder auch in Taxibetrieben - bei aller Anstrengung - überhaupt nicht mehr darum, bescheiden zu wachsen, kleine Hoffnungen Realität werden zu lassen. Sondern zuallererst darum, sich gegen den Abstieg zu stemmen und das drohende Ende zu verhindern.

Kann man dies jetzt wirklich sozialen Fortschritt nennen?

Bei ihrem Votum heute war die Mindestlohn-Kommission an einige Vorgaben gebunden, darunter vor allem die, sich an der allgemeinen Lohnentwicklung in Deutschland zu orientieren. An Forderungen und Appellen mangelte es in den vergangenen Wochen dennoch nicht. Neun Euro pro Stunde forderten einige, andere gar zehn. Es wäre nur gegen das Gesetz gewesen. Deshalb wurden es dann 8,84 Euro.

Diese Berufsgruppen verdienen am wenigsten
Groß- und Einzelhandel Quelle: dpa
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Letztes Aufbäumen

Regina Gröger hat bereits zuvor darüber nachgedacht, nachdenken müssen, was sie dann tun wird. Auf der Terrasse des Kornhauses ist etwa die Hälfte der Tische besetzt, die Sonne gibt ihr Bestes, ihre Kellner tragen Zander, Salate und kühle Biere hinaus. Es ist ein wunderbarer Sommernachmittag. Grögers Laune hilft das alles nicht. Mehr als 8,80 Euro also, ja, das ist eine Zäsur. Noch ein paar Schräubchen noch ein wenig weiter zu drehen, das weiß sie, würde wohl nicht mehr reichen. Sie sperrt sich gegen den Gedanken, der daraus folgt, möglicherweise ist doch irgendwo noch ein Ausgang, den sie bisher noch nicht gefunden hat. Eine Notlösung. Vielleicht. Hoffentlich.

Aber die Realistin in Regina Gröger ringt sich zu etwas anderem durch. Sie strafft ihren Rücken und atmet durch. "Wenn es wirklich in Richtung 8,80 Euro geht", sagt sie schließlich, "müsste ich ein Restaurant schließen." So ist nun passiert. Es verheißt für ihre Zukunft nichts Gutes.

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