Mindestlohn-Entscheidung Was 8,84 Euro für den Osten bedeuten

Nun ist es offiziell: Der Mindestlohn steigt 2017 um vier Prozent auf 8,84 Euro. Was das für Unternehmer bedeutet, die schon mit 8,50 Euro kämpfen? Wenig Gutes.

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Anpassung des Mindeslohns. Quelle: dpa Picture-Alliance

Als Olaf Buchholz vor gut zwei Jahren das erste Mal vom Mindestlohn hört, geht der Bäckermeister an seinen Schreibtisch, nimmt Platz und beginnt, das Unvermeidliche zu berechnen. Von seinen 41 Beschäftigten arbeiten 14 in der Backstube. Nur zwei von ihnen bekommen bereits ein Gehalt, das über 8,50 Euro liegt. Dazu kommen 25 Verkäuferinnen, die hinter den Tresen stehen, und zwei Fahrer, die Waren zum Kunden bringen. Auch sie alle verdienen weniger als 8,50 Euro. Olaf Buchholz atmet durch. Er durchkämmt Stundenlöhne und Arbeitszeiten, vergleicht, multipliziert, checkt Einkaufspreise und Rechnungen.  Zahlen über Zahlen füllt er in seinen Computer. Dann erscheint am Bildschirm ein Resultat, das er befürchtet hat: 20 Prozent. Er muss schlucken. Ein sattes Fünftel mehr soll er für sein Personal aufbringen, sobald der Mindestlohn kommt. Quasi über Nacht. "Da", erinnert sich der Bäcker, "habe ich erst mal Bauchschmerzen bekommen."

Der Bäckermeister Olaf Buchholz hat die Wirren der Wende überstanden. Den Mindestlohn auch - bislang jedenfalls. Quelle: Werner Schuering für WirtschaftsWoche

Heute steht Buchholz in seiner Backstube in Beuster, Sachsen-Anhalt. Er redet auf eine Auszubildende ein. Es geht um Mehltypen und Teigkonsistenz. Um den Unterschied also zwischen Massenbrei und liebevollem Handwerk. In der Nacht haben sie 1000 Brote, etliche Bleche Kuchen und 5000 Brötchen aus den Öfen gezogen. Neben dem Warenausgang stapeln sich Bleche und Bäckerkisten. Die Restwärme der Öfen erfüllt den Raum. Olaf Buchholz' Deichbäckerei lebt noch. Aber sie ist nicht mehr dieselbe.

Ginge es nach der Bundesregierung in Berlin oder nach führenden Gewerkschaftern, dürften die Sorgen und Nöte von Olaf Buchholz eigentlich gar nicht existieren. Der Mindestlohn, heißt es von dort immer wieder voller Überzeugung, sei eine "Erfolgsgeschichte". Punkt, Ende der Diskussion, Zwischentöne unerwünscht. Aber das ist anderthalb Jahre nach Inkrafttreten dieses wohl umstrittensten wirtschaftspolitischen Eingriffes der Nachkriegsgeschichte nicht die volle Wahrheit, sondern allenfalls eine halbe.

So viel Rente bekommen Sie
DurchschnittsrentenLaut den aktuellen Zahlen der Deutschen Rentenversicherung bezogen Männer Ende 2014 eine Durchschnittsrente von 1013 Euro. Frauen müssen inklusive Hinterbliebenenrente mit durchschnittlich 762 Euro pro Monat auskommen. Quellen: Deutsche Rentenversicherung; dbb, Stand: April 2016 Quelle: dpa
Ost-Berlin mit den höchsten, West-Berlin mit den niedrigsten RentenDie Höhe der Rente schwankt zwischen den Bundesländern. Männer in Ostberlin können sich mit 1147 Euro Euro über die höchste Durchschnittsrente freuen. In Westberlin liegt sie dagegen mit 980 Euro am niedrigsten. Aktuell bekommen männliche Rentner: in Baden-Württemberg durchschnittlich 1107 Euro pro Monat in Bayern durchschnittlich 1031 Euro pro Monat in Berlin (West) durchschnittlich 980 Euro pro Monat in Berlin (Ost) durchschnittlich 1147 Euro pro Monat in Brandenburg durchschnittlich 1078 Euro pro Monat in Bremen durchschnittlich 1040 Euro pro Monat in Hamburg durchschnittlich 1071 Euro pro Monat in Hessen durchschnittlich 1084 Euro pro Monat in Mecklenburg-Vorpommern durchschnittlich 1027 Euro pro Monat in Niedersachsen durchschnittlich 1051 Euro pro Monat in Nordrhein-Westfalen durchschnittlich 1127 Euro pro Monat im Saarland durchschnittlich 1115 Euro pro Monat in Sachsen-Anhalt durchschnittlich 1069 Euro pro Monat in Sachsen durchschnittlich 1098 Euro pro Monat in Schleswig-Holstein durchschnittlich 1061 Euro pro Monat in Thüringen durchschnittlich 1064 Euro pro Monat Quelle: AP
Frauen mit deutlich weniger RenteFrauen im Ruhestand bekommen gut ein Drittel weniger als Männer. Auch sie bekommen in Ostberlin mit durchschnittlich 1051 Euro die höchsten Bezüge. Am wenigsten bekommen sie mit 696 Euro in Rheinland-Pfalz. Laut Deutscher Rentenversicherungen beziehen Frauen inklusive Hinterbliebenenrente: in Baden-Württemberg durchschnittlich 772 Euro pro Monat in Bayern durchschnittlich 736 Euro pro Monat in Berlin (West) durchschnittlich 861 Euro pro Monat in Berlin (Ost) durchschnittlich 1051 Euro pro Monat in Brandenburg durchschnittlich 975 Euro pro Monat in Bremen durchschnittlich 771 Euro pro Monat in Hamburg durchschnittlich 848 Euro pro Monat in Hessen durchschnittlich 760 Euro pro Monat in Mecklenburg-Vorpommern durchschnittlich 950 Euro pro Monat in Niedersachsen durchschnittlich 727 Euro pro Monat in Nordrhein-Westfalen durchschnittlich 749 Euro pro Monat im Saarland durchschnittlich 699 Euro pro Monat in Sachsen-Anhalt durchschnittlich 964 Euro pro Monat in Sachsen durchschnittlich 983 Euro pro Monat in Schleswig-Holstein durchschnittlich 744 Euro pro Monat in Thüringen durchschnittlich 968 Euro pro Monat Quelle: dpa
Beamtenpensionen deutlich höherStaatsdienern geht es im Alter deutlich besser. Sie erhalten in Deutschland aktuell eine Pension von durchschnittlich 2730 Euro brutto. Im Vergleich zum Jahr 2000 ist das ein Zuwachs von knapp 27 Prozent. Zwischen den Bundesländern schwankt die Pensionshöhe allerdings. Während 2015 ein hessischer Staatsdiener im Ruhestand im Durchschnitt 3150 Euro ausgezahlt bekam, waren es in Sachsen-Anhalt lediglich 1940 Euro. Im Vergleich zu Bundesbeamten geht es den Landesdienern dennoch gut. Im Durchschnitt kommen sie aktuell auf eine Pension von 2970 Euro. Im Bund sind es nur 2340 Euro. Quelle: dpa
RentenerhöhungIm Vergleich zu den Pensionen stiegen die normalen Renten zwischen 2000 und 2014 deutlich geringer an. Sie wuchsen lediglich um 15,3 Prozent. Quelle: dpa
Reserven der RentenkasseDabei verfügt die deutsche Rentenversicherung über ein sattes Finanzpolster. Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung betrug die sogenannte Nachhaltigkeitsrücklage Ende 2014 genau 35 Milliarden Euro. Das sind rund drei Milliarden Euro mehr als ein Jahr zuvor. Rechnerisch reicht das Finanzpolster aus, um fast zwei Monatsausgaben zu bezahlen. Nachfolgend ein Überblick, mit welcher Rente die Deutschen im aktuell im Durchschnitt rechnen können: Quelle: dpa
Abweichungen vom StandardrentnerWer 45 Jahre in den alten Bundesländern gearbeitet hat und dabei den Durchschnittslohn verdiente, bekommt pro Monat 1314 Euro ausgezahlt. Bei 40 Arbeitsjahren verringert sich die monatliche Auszahlung auf 1168 Euro. Wer nur 35 Jahre im Job war, bekommt 1022 Euro. Quelle: Fotolia

Es gibt ein Mindestlohnproblem. Keines, das die ganze Republik ins Wanken bringen würde, in der das Bruttoinlandsprodukt stabil wächst und der Arbeitsmarkt Rekordmeldung an Rekordmeldung reiht. Aber eben doch eines, das schmerzt. Auch wenn die Politiker in Berlin davon selten etwas mitbekommen.  Man findet die Schwierigkeiten, das Kämpfen und Strecken all jener, die die neue Lohnuntergrenze einhalten müssen, vor allem dort, wo die Löhne zuvor besonders niedrig waren und der gesetzlich vorgegebene Sog nach oben deshalb am stärksten ist: in Ostdeutschland.

Die 8,50 Euro zu Beginn des Jahres 2015 waren für weite Teile des Westens verkraftbar, in vielen Landstrichen im Osten jedoch waren sie schon sehr viel Geld, manchmal zu viel. Am heutigen Dienstag nun hat die eigens von der Bundesregierung berufene Mindestlohnkommission, in der Vertreter der Sozialpartner und Ökonomen sitzen, verkündet, welche Erhöhung sie ab 2017 für angemessen hält.  8,84 Euro werden es ab Januar des kommenden Jahres sein, ein Plus von vier Prozent. Bundesweit. Das klingt zunächst nicht schlimm. „Eine sehr verantwortungsvolle Entscheidung“, meint auch der Kommissions-Vorsitzende Jan Zilius. Doch für viele Unternehmen im Osten wird diese 34-Cent-Entscheidung eine ökonomische Wende markieren: den Tag, an dem es endgültig abwärtsging.

In Olaf Buchholz' Büro, dort, wo er ausrechnete, wie viel ihn der Mindestlohn kosten wird, hängen drei Fotos an der Wand. Sie zeigen seine Backstube in Beuster direkt an der Grenze zu Brandenburg - einmal 1992, dann 2006, zuletzt im vergangenen Jahr. Auf den Bildern wächst die Backstube, mit jedem Abzug sieht sie moderner aus, man sieht die Investitionen, den ganzen Unternehmerstolz. Die Bilder erzählen von Aufschwung. Sie erfassen nur nicht die ganze Geschichte.

Der ganze Unternehmerstolz

Buchholz führt die Bäckerei in vierter Generation. Er ist froh, sie durch die verrückte Wendezeit gebracht zu haben. Vor zwei Jahren schwor er sich: Den Mindestlohn, den schaffe ich auch. Er begann damit, seinen Mitarbeitern Stunden zu kürzen, um Gehalt einzusparen. Doch das reichte nicht. Als Nächstes ging der Bäckermeister das Sortiment an.

50 Kuchensorten produzierten sie vor dem Mindestlohn. Eine Auswahl, die schön für den Kunden ist, aber unschön für die Bilanz. Denn sie ist furchtbar ineffizient: Für jeden Kuchen muss ein anderer Teig angerührt werden, müssen andere Cremes und Beläge hergestellt oder Früchte bestellt werden. Jeder dieser zusätzlichen Schritte kostet Arbeitskraft, die für Buchholz zu teuer geworden ist. Nun können seine Kunden halt nur noch aus 25 Sorten auswählen.

Die Gastronomin Regina Gröger hat nichts gegen gute Löhne, aber der staatliche Zwang macht ihr zu schaffen. Quelle: Werner Schuering für WirtschaftsWoche

Buchholz kam so ohne Kündigungen aus - aber er besetzte Stellen, die frei wurden, nicht neu. Aus seinen 41 Angestellten wurden 36. Außerdem wurde Buchholz kreativ und stellte zum ersten Mal günstige Lehrlinge nur für den Verkauf ein. "Wie soll ich sagen - eine Verkäuferin alleine schafft es nicht, und zwei sind zu teuer", sagt er, "aber mit einer Verkäuferin und einer Auszubildenden passt es genau."

Der Bäcker hat seinen Betrieb kontrolliert geschrumpft. Anders hätte er den Wandel nicht überlebt. Nur so konnte er den Anstieg der Lohnkosten von 20 auf 5 Prozent drücken. Den Rest der Mehrausgaben holt er über höhere Preise rein.  Das Stück Quarkkuchen kostet jetzt eben 1,55 Euro statt 1,40 Euro. Ein Brötchen 33 Cent statt 30 Cent. Und ein Mischbrot geht nicht mehr für 2,80 Euro, sondern für 2,95 Euro über den Tresen. Buchholz' treue Kundschaft macht es glücklicherweise mit.

So hat sich Buchholz sogar ein wenig Reserve nach oben verschafft. Neun Euro Stundenlohn, das würde er ebenfalls gut packen, glaubt er. Aber, sagt er, es gibt Grenzen - der Belastbarkeit und seiner Anpassungsfähigkeit. "Irgendwann ist Schluss mit Preiserhöhungen. Sonst kaufen alle nur noch beim Discounter."

Die Wirklichkeit von Olaf Buchholz passt nicht recht zu den widerstreitenden Lehren, die über das Wohl und Wehe des Mindestlohns im Umlauf sind. Weder deckt sie sich mit den Märchen des uneingeschränkten Regulierungserfolgs, der der schwächelnden sozialen Marktwirtschaft überhaupt erst wieder Geltung verschafft habe. Ebenso wenig jedoch folgt sie dem Geschrei mancher Ökonomen und Verbandsvertreter, die den Teufel nicht grell genug an die Wand malen konnten.

Gerade die Zunft der Wirtschaftswissenschaftler hat bei Fragen des Mindestlohns in den vergangenen Jahren nicht immer scharf getrennt zwischen Agitation und Analyse. Bis zu einer Million Jobs, menetekelten einzelne Forscher, könnten dem Mindestlohn zum Opfer fallen. Der Aufschwung würde rasiert. Der Arbeitsmarkt blockiert. Die Depression schien nah.

Es kam dann anders.

Wo sich der Mindestlohn für Praktikanten bezahlt macht
Ein Stempel mit dem Stempeltext Mindestlohn Quelle: dpa
Professionelle Programmierer Quelle: dpa
Energie-Branche Quelle: Fotolia
Praktika im Bereich Konsum- & Gebrauchsgüter Quelle: dpa/dpaweb
Praktika in der Chemiebranche Quelle: dpa
Baugewerbe & -industrie Quelle: Fotolia
Praktikanten im Bereich Transport und Logistik haben nach Einführung des Mindestlohns mehr bekommen Quelle: Fotolia

Oliver Holtemöller kann für sich in Anspruch nehmen, deutlich näher an der Wahrheit gelegen zu haben. Der Professor für Volkswirtschaftslehre leitet als stellvertretender Vorsitzender das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle, das zweimal im Jahr mit drei weiteren Instituten für den Bundeswirtschaftsminister die Gemeinschaftsdiagnose erstellt. Was Holtemöller und Kollegen in ihrem Frühjahrsgutachten 2014 skizzierten, ein gutes halbes Jahr vor der Einführung des Mindestlohns, erscheint rückblickend ziemlich treffend.  Spürbare Einschläge auf dem Arbeitsmarkt prophezeiten sie in einer Größenordnung von bis zu 200 000 Stellen, vor allem bei den schlecht bezahlten Minijobs, und das wiederum verstärkt im Osten.

Bei den 450-Euro-Jobs gibt es in der Tat eine Zeit vor und nach dem Mindestlohn, die Klippe ist unübersehbar. Gerade Rentner, Schüler und Studenten haben ihre beliebten Zubrotjobs verloren, weil sie zu teuer geworden sind.  Ungelernte Arbeiter wiederum arbeiten in Ostdeutschland eindeutig weniger Stunden als vor dem Mindestlohn, auch das können die Fachleute bereits sehen.

Gebremster Boom

Ansonsten, so hat es das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung analysiert, dürfte die Untergrenze dazu geführt haben, dass rund 60 000 neue Arbeitsplätze weniger entstanden sind, als es ohne der Fall gewesen wäre. Der gesamtdeutsche Boom fällt also nicht aus, er wird gebremst.

Man sollte Oliver Holtemöller deshalb zuhören, weil er ein Kritiker ist, aber kein Apokalyptiker war. Ist diese erste Bilanz nun schwarz oder weiß? Man muss wohl sagen: eine grau schattierte. Der Mindestlohn, sagt der Ökonom, bleibe dennoch "ein großer wirtschaftspolitischer Eingriff", gerade im Osten. "Wo die Einkommen niedriger sind, ist der Lohnkostenanstieg eben am größten." Wenn die Untergrenze nun bereits 2017 weiter nach oben geschoben werde, sei nichts Gutes zu erwarten. "Der wirtschaftliche Druck im Kessel steigt."

Dann wird er grundsätzlich. Eigentlich ginge es ja um das Problem geringer Löhne. Und die hätten schließlich meistens damit zu tun, dass die betroffenen Arbeitnehmer gesundheitlich eingeschränkt seien, ihre Qualifikation mangelhaft sei oder die Kita-Versorgung unzureichend, sodass sie nicht ganztags zur Verfügung stehen. "Der Mindestlohn behebt keines dieser drei Probleme, er adressiert nur die Symptome", kritisiert Holtemöller. Es wird nicht über Schulabbrecher geredet, über mehr Erzieher oder Rehabilitationskurse, sondern lieber über plakative Zahlen. Kurzfristige politische Geländegewinne schlagen die langfristige Ursachenbekämpfung. "Echte Armutsbekämpfung sieht anders aus."

Vielleicht ist dies die größte Schwäche des Mindestlohns: dass er vorgibt, soziale Missstände an der Wurzel zu packen, aber eigentlich nur ein bisschen am Unkraut zupft. Und dass er die Kluft zwischen anpackenden Unternehmern draußen im Land und der Politik noch tiefer und breiter geschlagen hat. Es wird zwar schlecht übereinander geredet, aber zu sagen hat man sich nichts.

Grafik zu den Bundesländern im Osten

Kalte Verachtung

Regina Gröger fragt sich jedenfalls fast jeden Tag, was sie eigentlich für ihre Arbeit an Wertschätzung bekommt. Für die Hektik an sieben Tagen die Woche mit gut und gerne zwölf Stunden - täglich, versteht sich. Eine rhetorische Frage, Gröger weiß das natürlich. Sie kriecht trotzdem immer wieder in ihr hoch.

Die 66-Jährige ist gebürtige Dessauerin, sie lebt in Dessau, sie hat Arbeitsplätze geschaffen in Dessau. Drei Restaurants betreibt sie hier, mit 55 festen Mitarbeitern und mehr als einem Dutzend zusätzlicher Minijobber. Für die Politik hat die Gastronomin eigentlich nur noch kalte Verachtung übrig. Weil die kein Verständnis hat für ihre Situation. Vor etwas mehr als drei Jahren übernahm Gröger das Kornhaus, ein Bauhaus-Kleinod direkt auf dem Deich an einer Elbschleife.

Als Erstes kontaktierte sie das Denkmalschutzamt, engagierte einen Historiker und ließ den Bau wieder in den Zustand von 1930 versetzen. Sie baute Lampen nach, riss den Teppich heraus, kopierte den Originalfußboden und rekonstruierte alte Wandfarben. Einen sechsstelligen Kredit investierte sie in die Renaissance der eleganten Bauhaus-Sachlichkeit. Sie wollte es richtig machen oder gar nicht.

So hoch ist das Gehaltsniveau in Deutschland

Gröger sitzt auf der Terrasse ihres Kornhauses und blickt auf den ebenso träge wie mächtig dahinziehenden Strom und die sattgrünen Elbauen. Kein Gebäude weit und breit außer ihrem, ein gesegnetes Plätzchen. Sie weiß das, sie will hier Geld verdienen und erwartet keinen Dank, aber ist es denn zu viel verlangt, dass einem wenigstens keine Hürden in den Weg gelegt werden?

Mit der Energiewende stiegen zuerst die Strompreise. Als sie mehr Geburtstagsfeiern und Hochzeiten akquirierte, um den dringend nötigen Zusatzumsatz zu machen, schlug als Nächstes die Gema mit immer höheren Gebühren zu. Sie schrieb ihrem Bundestagsabgeordneten einen langen Brief dazu, in dem sie ihre Schwierigkeiten schilderte. Als Antwort kam: nichts. "Der Mindestlohn", sagt sie, "war das letzte Tröpfchen, der hat das Fass zum Überlaufen gebracht." Die Kosten, der zusätzliche Papierkram, überall Paragrafenfallen. Manchmal sieht sie Andrea Nahles, die verantwortliche Bundesarbeitsministerin, im Fernsehen. Dann gehen ihr "die Haare hoch".

Falscher Fortschritt

Auf ihre Mitarbeiter lässt Gröger dabei nicht das Geringste kommen, sie gönnt ihnen jeden Euro. Das ist ihr wichtig. Aber in ihrem Geschäft bestimme am Ende eben der Gast, wo die Grenzen des Möglichen liegen. Das Kalbssteak mit Tomaten-Orangenchutney kostet bei ihr 22,50 Euro, der Zander mit Blutwurstravioli 20,50 Euro. Die meisten Touristen finden das in Ordnung und genießen die Aussicht, aber die einheimischen Stammgäste zögern doch merklich - und Gröger hat dafür absolut Verständnis.

Es bleibt ihr nur keine andere Wahl. Auch Gröger schaffte es - ganz ähnlich wie Olaf Buchholz in seiner Bäckerei -, ohne Entlassungen auszukommen, weil sie die Preise erhöhte, Ruhetage einführte und Arbeitszeiten reduzierte. Sie drehte an allen Schräubchen, die sie finden konnte. Immer in der Hoffnung, nirgendwo zu überdrehen.

Etwas hat sich fundamental verändert mit dem Mindestlohn; etwas, das sich nicht in einer Arbeitslosenstatistik ausdrücken oder in BIP-Daten ablesen lässt. Die Entfremdung und der Zorn kamen schleichend. Man bemerkt das erst, wenn man mit Unternehmerinnen wie Regina Gröger spricht: Es geht in vielen, vor allem ostdeutschen Branchen wie der Gastronomie, den Bäckereien oder auch in Taxibetrieben - bei aller Anstrengung - überhaupt nicht mehr darum, bescheiden zu wachsen, kleine Hoffnungen Realität werden zu lassen. Sondern zuallererst darum, sich gegen den Abstieg zu stemmen und das drohende Ende zu verhindern.

Kann man dies jetzt wirklich sozialen Fortschritt nennen?

Bei ihrem Votum heute war die Mindestlohn-Kommission an einige Vorgaben gebunden, darunter vor allem die, sich an der allgemeinen Lohnentwicklung in Deutschland zu orientieren. An Forderungen und Appellen mangelte es in den vergangenen Wochen dennoch nicht. Neun Euro pro Stunde forderten einige, andere gar zehn. Es wäre nur gegen das Gesetz gewesen. Deshalb wurden es dann 8,84 Euro.

Diese Berufsgruppen verdienen am wenigsten
Groß- und Einzelhandel Quelle: dpa
Öffentlicher Dienst und Verbände Quelle: dpa
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Land-, Forst- und Fischwirtschaft, Gartenbau Quelle: dpa
Gesundheit und soziale Dienste Quelle: dpa
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Letztes Aufbäumen

Regina Gröger hat bereits zuvor darüber nachgedacht, nachdenken müssen, was sie dann tun wird. Auf der Terrasse des Kornhauses ist etwa die Hälfte der Tische besetzt, die Sonne gibt ihr Bestes, ihre Kellner tragen Zander, Salate und kühle Biere hinaus. Es ist ein wunderbarer Sommernachmittag. Grögers Laune hilft das alles nicht. Mehr als 8,80 Euro also, ja, das ist eine Zäsur. Noch ein paar Schräubchen noch ein wenig weiter zu drehen, das weiß sie, würde wohl nicht mehr reichen. Sie sperrt sich gegen den Gedanken, der daraus folgt, möglicherweise ist doch irgendwo noch ein Ausgang, den sie bisher noch nicht gefunden hat. Eine Notlösung. Vielleicht. Hoffentlich.

Aber die Realistin in Regina Gröger ringt sich zu etwas anderem durch. Sie strafft ihren Rücken und atmet durch. "Wenn es wirklich in Richtung 8,80 Euro geht", sagt sie schließlich, "müsste ich ein Restaurant schließen." So ist nun passiert. Es verheißt für ihre Zukunft nichts Gutes.

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