Schulz setzt in Arbeitsmarktpolitik auf Qualifizierung
Wird das Arbeitslosengeld Q der Wahlkampfschlager 2017 der SPD? Die Konstruktion ist bisher das Konkreteste an den Plänen von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz zur Korrektur der ungeliebten Agenda 2010. Das ALG Q soll eine Verlängerung des Arbeitslosengelds auf bis zu 48 Monate ermöglichen.
Mit dem Bekanntwerden der von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ausgearbeiteten Pläne ist am Wochenende der Kampf um den Kurs von Schulz neu entbrannt: Gibt der Kandidat die richtigen Antworten auf die Lage in Deutschland - und kann er die jetzt oft als müde beschriebene Kanzlerin Angela Merkel aus dem Kanzleramt verdrängen?
Nahles stellt den Schulz-Vorstoß für ein längeres Arbeitslosengeld I (ALG I) für Ältere in einen größeren Rahmen. Es geht ihr dabei darum, wie althergebrachte Regeln für die digitale Wirtschaft verändert werden müssen. Betriebe und Arbeitnehmer sollen flexibler agieren können, ohne dass die Beschäftigten unter die Räder kommen. „Die neue Arbeitswelt 4.0 braucht neue Absicherung für die Beschäftigten“, heißt es in ihrem dreiseitigen Papier für den SPD-Vorstand an diesem Montag. Es könne künftig „mehr Übergänge zwischen Erwerbstätigkeit und Phasen der Arbeitslosigkeit“ geben.
Das "ALG Q"
Zwei Wochen nach einem Vorstoß von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz für eine längere Unterstützung von Erwerbslosen durch die die Arbeitslosenversicherung wollen die Sozialdemokraten konkret werden: Der Parteivorstand soll am Montag die Einführung eines neuen "Arbeitslosengeldes Q" beschließen, wobei "Q" für Qualifizierung steht, wie aus einer der Nachrichtenagentur Reuters vorliegenden Beschlussempfehlung hervorgeht. Neu ist, dass Arbeitslose einen Rechtsanspruch auf eine Qualifizierungsmaßnahme erhalten - und dass die Dauer dieser Weiterbildung nicht auf die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I angerechnet wird. Die Beschlussempfehlung wurde maßgeblich von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles in ihrer Funktion als Vorsitzende einer Arbeitsgruppe der SPD ausgearbeitet. Die Kosten werden in dem Papier nicht erwähnt. In SPD-Kreisen wurden sie auf etwa eine Milliarde Euro jährlich geschätzt.
Quelle: Reuters
"Wir wollen ein Recht auf Weiterbildung einführen", heißt es in der Beschlussvorlage. Die oberste Arbeitsbehörde soll in "Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung" umbenannt und gesetzlich verpflichtet werden, Arbeitslosen ein Angebot für eine Qualifizierungsmaßnahme zu machen, wenn sie innerhalb von drei Monaten keine neue Beschäftigung finden. Für die Dauer der Qualifizierung wird "Arbeitslosengeld Q" in Höhe des Arbeitslosengeldes I gezahlt.
"Der Bezug des ALG Q wird nicht auf einen Anspruch auf Arbeitslosengeld angerechnet", heißt es weiter. Bisher wird die Dauer einer Qualifikationsmaßnahme zur Hälfe auf die Zahldauer des Arbeitslosengeldes I (ALG I) angerechnet. Zum Beispiel: Eine berufliche Weiterbildung eines Arbeitslosen von sechs Monaten verringert den ALG-I-Anspruch um drei Monate. "Damit können Arbeitsuchende, die nicht direkt eine neue Stelle finden und sich gleichzeitig weiterqualifizieren, länger Arbeitslosengeld beziehen als bisher." Konkret hieße das: Wer Anspruch auf zwölf Monate Arbeitslosengeld I hat und ein Jahr ALG Q bekäme, erhielte insgesamt 24 Monate Unterstützung. Bei zwei Jahren ALG Q und einem Anspruch auf 24 Monate ALG I käme ein Arbeitsloser über 58 Jahren auf 48 Monate.
Die SPD will zudem den Kreis derjenigen ausweiten, die Anspruch auf ALG I haben. Derzeit müssen dafür innerhalb von zwei Jahren mindestens zwölf Monate lang Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt worden sein. Künftig sollen zehn Beitragsmonate innerhalb von drei Jahren reichen. Dadurch "profitieren mehr Beschäftigte von dem Schutz der Arbeitslosenversicherung", heißt es in dem Papier.
In der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV) sieht das SPD-Konzept höhere Vermögensfreibeträge vor. Das aus Steuern finanzierte Arbeitslosengeld II (ALG II) erhalten Erwerbsfähige, die arbeitslos sind, aber keinen Anspruch auf ALG I haben. Bevor sie Hartz IV bekommen, müssen sie bis zu einem bestimmten Freibetrag auf eigenes Vermögen zurückgreifen. Den Freibetrag, der davon verschont bleibt, will die SPD von derzeit 150 auf 300 Euro pro Lebensjahr erhöhen. Bei einem 60-Jährigen bliebe demnach Erspartes von bis zu 18.000 Euro unangetastet.
Zu den Kosten enthält das Papier nichts. In SPD-Kreisen wurde aber folgende Rechnung aufgestellt: Die Ausweitung der Anspruchsberechtigten für ALG I könne etwa 600 Millionen Euro kosten, während die zusätzlichen Qualifikationsmaßnahmen mit etwa 400 Millionen Euro jährlich zu Buche schlagen könnten. Finanziert würde dies - wie das ALG I - durch Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zur Arbeitslosenversicherung. Sie führen derzeit monatlich 3,0 Prozent des Bruttoverdiensts an die Bundesagentur ab. Die BA verfügte zum Jahresanfang über Rücklagen von 11,4 Milliarden Euro.
In der Regel beträgt das ALG I etwa 60 Prozent (bei Arbeitslosen mit Kindern 67 Prozent) des letzten Nettoverdienstes. Die Zahldauer wurde mit den Agenda-2010-Reformen von bis zu 32 Monaten auf höchstens 18 Monate beschränkt. Über 58-Jährige können mittlerweile die Arbeitslosenunterstützung bis zu 24 Monate erhalten. Bis zum 50. Lebensjahr gibt es höchstens zwölf Monate ALG I. Auch die bisherigen Qualifikationsmaßnahmen für Arbeitslose mit Anspruch auf ALG I werden aus der Arbeitslosenversicherung finanziert.
Die Förderung der beruflichen Weiterbildung ist aus Sicht von Arbeitsmarktexperten ein wichtiges Instrument, um die Beschäftigungschancen zu erhöhen. Allerdings führt auch die Weiterbildung nicht in allen Fällen zu einem dauerhaften Job: Etwa jeder 2. Teilnehmer an einer "Maßnahme zu Förderung der beruflichen Weiterbildung" ist laut einer BA-Statistik sechs Monate nach Beendigung der Maßnahme sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Diese Zahlen fassen Bezieher von Arbeitslosengeld I und Hartz-IV-Empfänger zusammen. Im Jahr 2015 wurden demnach rund 313.800 Fördermaßnahmen beendet - in 54,8 Prozent der Fälle war der Teilnehmer sechs Monate später noch in einem Job.
Wie passt das neu vorgeschlagene ALG Q hier hinein? Schulz hatte eine Verlängerung des ALG I noch damit begründet, dass beispielsweise ein 50-Jähriger Angst vor Arbeitslosigkeit hat, weil er dann schon nach 15 Monaten nur noch Hartz IV bekommen würde. Geplant ist in der Nahles-Ausarbeitung nun aber keine einfache ALG-Verlängerung, sondern eine Koppelung an Qualifizierung - im Sinne des Agenda Mottos „Fördern und Fordern“ des damaligen SPD-Kanzlers Gerhard Schröder.
Q steht für Qualifizierung. ALG I gibt es heute in der Regel 12, bei 58-Jährigen maximal 24 Monate. Der Bezug soll nur um die Zeit verlängert werden können, in der die Arbeitslosen eine Schulung, Umschulung oder einen neuen Abschluss machen. In der Zeit heißt es dann ALG Q. Die BA fördert eine abschlussorientierte Qualifizierung bis zu 24 Monate - so dass sich maximal 48 Monate ALG-Bezug ergeben würden. Die meisten Qualifizierungen dauern aber nur einige Monate.
Arbeitgeber und Union sind auf den Barrikaden. „Die rückwärtsgewandten Vorschläge verführen zu Warteschleifen, an deren Ende nicht Beschäftigung, sondern Frühverrentung steht“, warnt der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands BDA, Steffen Kampeter. Unionsfraktionschef und Merkel-Vertrauter Volker Kauder (CDU) wirft Schulz in der „Welt am Sonntag“ Miesmacherei vor. In Wahrheit gehe es heute nun um die Verteidigung der deutschen Spitzenstellung in Technik und Produktion. „Das ist die zentrale Herausforderung für unser Land, nicht die Länge des Arbeitslosengelds I.“
Streit um ALG
Tatsächlich ist ein längeres ALG I umstritten. Bis zur 2005 gestarteten Hartz-IV-Reform hatten viele Ältere die bis dahin geltende Bezugsdauer von bis zu 32 Monaten als Möglichkeit eines vorgezogenen Ruhestandes genutzt. Unternehmen entledigten sich auf Kosten der Sozialkasse älterer Beschäftigter. Das kürzere ALG I und Hartz IV erhöhte den Druck auf Erwerbslose, auch unerwünschte Jobs anzunehmen. Kritik an einer ALG-Verlängerung übt nun der scheidende Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise.
Die Agenda 2010 blieb keineswegs starr. Bereits 2007 verlängerten Union und SPD das ALG I für Ältere ab 50. Ulrich Walwei vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der BA nannte die Verlängerung damals „süßes Gift“. Denn: „Wer einen längeren Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, ist meist auch länger arbeitslos“, erläutert der Vizechef des Instituts heute. 2007 wollte der damalige SPD-Vizekanzler Franz Müntefering die Verlängerung zuerst verhindern - sein Kompromissvorschlag: Diese an Qualifizierung zu knüpfen. Damals setzte er sich damit nicht durch.
Doch wem würde ein Arbeitslosengeld Q überhaupt etwas bringen? Die Opposition hat sich in der Agenda-2010-Debatte bisher kraftvoller auf Schulz eingeschossen, als es bei der Union den Anschein hat. Die Linke kritisiert, dass Schulz an Hartz IV nicht rütteln will. Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, einkommensschwache Kinderreiche, Migranten - die Grünen-Arbeitsmarktexpertin Brigitte Pothmer wirft der SPD vor, sich nicht um die zu kümmern, die es am Nötigsten hätten. „Die SPD hat vor allem ältere männliche Facharbeiter im Blick. Für die anderen Menschen sind die blind.“
Dass ein längerer ALG-I-Bezug vielen Menschen mit geringem Verdienst gar nicht so viel bringt, zeigen Zahlen der Bundesagentur: Sie kommen manchmal mit Hartz IV besser über die Runden als mit ALG I, das 60 Prozent des Nettolohns beträgt. Der durchschnittliche ALG-I-Betrag lag im November 2016 bei 992 Euro. Ein alleinstehender Hartz-IV-Bezieher bringt es derzeit im Monat auf 409 Euro. Samt der vom Jobcenter übernommenen Wohnkosten ist häufig der Abstand zum ALG 1 nicht mehr allzu groß. Mit Frau und einem Kind, kommt er - ohne Wohnkosten - sogar auf mehr als 1000 Euro.