Möglicher Anschlag Vor diesem Tag hat sich Berlin immer gefürchtet

Zwischen den Bretterbuden steht der Lkw, der auf einen Weihnachtsmarkt gerast und Menschen getötet hat. Viele Berliner sind schockiert – und hatten doch schon länger mit einer solchen Tat gerechnet. Ein Stimmungsbild.

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Nach der Todes-Fahrt steht der Lkw zwischen den Buden an der Gedächtniskirche.

Berlin Die drei jungen Frauen fragen auf Englisch nach dem Weg. Nicht ins Hotel wollen sie, sondern zum Maxxim Club, einer Partylocation in Berlin-Charlottenburg. Ob sie nicht mitbekommen haben, was heute hier passiert ist. Doch, sagen die drei, und sie seien betroffen. Aber sie kommen aus Israel. Da ist man aus leidvoller Terrorerfahrung daran gewöhnt, dass die Gewalt urplötzlich ins alltägliche Leben einbrechen kann. Und die Frauen haben nur fünf Tage Zeit für die Hauptstadt, drei sind schon um. „Wir bemühen uns, zur Normalität zurückzukehren“, sagt eine von ihnen.

Dabei ist nichts normal an diesem Abend in Berlin. Die große Neonwerbetafel am Kurfürstendamm haben die Touristinnen wahrscheinlich nicht gesehen – oder nicht verstanden. Wo sonst in grellen Farben für Dior und anderen Luxus geworben wird, prangen nun in weißer Schrift auf schwarzem Grund ein paar nüchterne Sätze: „Halten Sie bitte die Rettungswege für die Einsatzkräfte frei.“ Und: „Bitte helfen Sie der Polizei. Bleiben Sie zu Hause und verbreiten Sie keine Gerüchte.“

Das Hotel Waldorf Astoria, eines der besten Häuser am Platz, ist wie die ganze Gegend rund um den Breitscheidplatz weiträumig abgesperrt. Hier gibt es Informationen aus erster Hand, aber nur für Angehörige der Menschen, die wenige Stunden zuvor und nur ein paar Meter weiter ums Leben gekommen oder schwer verletzt worden sind. Aus der Ferne betrachtet leuchtet die gelbe Uhr der Gedächtniskirche wie immer, daneben schimmert mattblau der Kubus der modernen Andachtshalle, die an die Stelle des kriegszerstörten Kirchenschiffs getreten ist.

Auch der Zoo-Palast, das Traditionskino am Bahnhof Zoo, wird violett angestrahlt, als sei nichts geschehen. „Herzlich Willkommen“ prangt heller in Neonschrift über dem Eingang. Ein großes Plakat wirbt für den neuen Star-Wars-Film. Doch es ist kein Sternenkrieg, um den es heute in Berlin geht. Wenn die Befürchtungen sich bestätigen sollten, dann sind die neun Toten und unzähligen Verletzten, die dieser Vorweihnachtsabend im Herzen des alten Westberlin gefordert hat, Opfer eines Krieges, den Terroristen unserer westlichen Lebensart erklärt haben.

Thomas Neuendorf, Sprecher der Berliner Polizei, will das zwei Stunden nach dem tragischen Ereignis noch nicht bestätigen. Was die Ermittler bis dahin wissen, ist, dass ein Lastwagen mit polnischen Kennzeichen mit hoher Geschwindigkeit in die Weihnachtsmarktbuden am Fuße der Gedächtniskirche gerast ist. Der Beifahrer starb vermutlich an den Unfallfolgen. Der Fahrer sei zunächst geflüchtet. In der Nähe wurde dann aber ein Verdächtiger festgenommen, dessen Identität nun überprüft werde.

Ein Anschlag oder ein schrecklicher Unfall? Das sei nun Gegenstand der Ermittlungen, sagt Neuendorf, der fast im Pulk der auf ihn eindrängenden Journalisten untergeht. Über die Nationalität und auch das Motiv möglicher Täter sei noch nichts bekannt. Fest stehe aber: Für die Berliner und die ausländischen Gäste in der Stadt bestehe keine Gefahr mehr.

Sicher hatten sich zuvor auch die Besucher des Weihnachtsmarkts auf dem Breitscheidplatz gefühlt. Um kurz vor 20 Uhr herrscht dort noch das gewohnte Treiben. Ein spanisches Paar steht etwas ratlos, aber voller Vorfreude vor einem Stand mit Grünkohl und riesigen Bratwürsten. Eine Verkäuferin wirft eine neue Portion Bratkartoffeln in die Pfanne. Ein Jugendlicher holt fünf Glühwein für sich und seine Freunde.

Dann kommt der schwarze Lastwagen und rast mit hoher Geschwindigkeit in den Weihnachtsmarkt. Alles sieht nach einem Terrorakt nach dem Muster von Nizza aus, wo Mitte Juli mehr als 80 Menschen von einem islamistischen Attentäter getötet wurden. Er wolle jetzt noch nicht das Wort Anschlag in den Mund nehmen, auch wenn viel dafür spreche, sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière am Abend. Die Polizei ermittelt in alle Richtungen.

Fest steht aber: Die Tragödie trifft Berlin mitten ins Herz. Ausgerechnet auf einem Weihnachtsmarkt, ausgerechnet am Breitscheidpatz vor der symbolträchtigen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, dem Berliner Friedenssymbol schlechthin, geschieht das Unglück: Ein dunkel lackierter Sattelschlepper mit einem langen, anthrazitfarbenen Auflieger kommt gegen 20 Uhr aus der Kantstraße gefahren, berichtet ein 62-jähriger Augenzeuge. Doch anstatt dem Linksknick vor dem Breitscheidplatz zu folgen, rast der Lkw geradeaus weiter – mitten hinein in das dichte Gedränge der Weihnachtsmarktbesucher zwischen den Bretterbuden. Zum Stehen kommt der Lkw erst an einer Laterne. Fünf Personen hätten unter dem Fahrzeug gelegen, berichtet der Mann. Dutzende Menschen werden verletzt, von dem Lkw oder den einstürzenden Holzverschlägen.


Dieser Ort, das könne kein Zufall sein

Die Polizei hat den Weihnachtsmarkt schnell weitläufig abgeriegelt. Augenzeugen werden von Polizisten weggebracht. Der Lastwagen, der in die Menge raste, ist hinter der Absperrung aber gut zu sehen. Vor ihm liegt eine große umgefahrene Tanne, die Frontschreibe ist zerborsten, das Fahrzeug etwas zur Seite geneigt, die schwarze Plane an der Seite aufgerissen.

Anselm Lange, Vorsitzender der Kirchengemeinde der Gedächtniskirche, blickt auf den Lkw und ringt um Worte. Lange wird von der Polizei eine halbe Stunde nach dem Unglück aus der Kirche über den Platz geführt und war einer der ersten an der Unfallstelle. Er habe „erschütternde Bilder wahrnehmen müssen“, sagt er. Er ist überzeugt: Es war ein Anschlag. Der Ort, ein Weihnachtsmarkt vor der Gedächtniskirche, das könne kein Zufall sein. „Seit Charlie Hebdo haben wir uns auf einen solchen Tag vorbereitet.“

Auch Politiker eilen an den Ort des Geschehens: Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) lässt sich die Unglücksstelle zeigen und informieren. Auch Innensenator Andreas Geisel (SPD), der das Amt erst seit elf Tagen inne hat, kommt. „Wir haben die Situation unter Kontrolle“, sagt er. Ob es ein Anschlag oder ein Unglück war, könne er noch nicht sagen, dafür sei es zu früh. Der Amoklauf von München habe ja gezeigt, dass Spekulationen in einem frühen Stadium nichts bringe, sagt Geisel sichtlich erschüttert.

Auf den Straßen um den Breitscheidpatz geht es in diesen Stunden des Schreckens so ruhig zu wie sonst nur an einem frühen Sonntagmorgen. Es sind zahlreiche schwer bewaffnete Polizisten unterwegs, viel Blaulicht inmitten der Festtagsbeleuchtung und Sirenenlärm statt Weihnachtsliedern, die den Ausnahmezustand kenntlich machen. Nur aus einer etwas entfernten Kneipe und einem „Späti“, wie in Berlin die rund um die Uhr geöffneten Kioske heißen, dringt noch laute Musik, als sei nichts geschehen.

Auch einige Hundert Meter Luftlinie entfernt, auf der Straße des 17. Juni, fahren Polizeiwagen mit Blaulicht. In einer Passage unweit des abgeriegelten Bereichs kontrollieren drei Polizisten einen Passanten, ein vierter hält seine Maschinenpistole im Griff und Schaulustige auf Abstand.

Berlin steht unter Schock, vor diesem Tag hatte sich die Hauptstadt immer gefürchtet. „Wir waren bislang jeden Tag auf dem Weihnachtsmarkt, nur heute nicht“, berichten zwei geschockte junge Mädchen, die vor der Absperrung am Breitscheidplatz stehen. „Dieser Tag wird Berlin für immer verändern.“ Ihr Leben selbst aber soll sich nicht verändern. Auf Weihnachtsmärkte wollen sie trotzdem weiterhin gehen, sagen sie trotzig. „Wir passen jetzt einfach noch mehr auf uns auf.“

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