Moralkeule Wir müssen aufhören, alles zu moralisieren

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Der Moralismusfalle entkommen?

Deutlich wird das auch an der Diskussion um Flüchtlinge. Die Situation löst sich weder dadurch, dass Deutschland seine Grenzen für alle öffnet, noch durch eine komplette Grenzschließung. Ganz schön kompliziert. Umso verlockender ist der Griff in die Moralkiste – bloß führt die häufig direkt zu Konflikten, die sich mitunter in Gewalt entladen. Man denke an die Wutbürger der Pegida-Bewegung, die Flüchtlinge vor allem für Sozialschmarotzer halten. Oder die Ausschreitungen, die die Treffen der G7-Industrienationen regelmäßig begleiten. Wer fest daran glaubt, dass der Westen Entwicklungsländer ausnutzt und der Kapitalismus die Armen entrechtet, der wirft eben schon mal Steine.

Wie können Politiker der Moralismusfalle entkommen? Sie müssten vor allem darauf achten, dass sich moralische Forderungen und ihre Bedingungen nicht ausschließen, sagt Lütge. Das Alter für den Renteneintritt trotz der demografischen Situation zu senken ist ein Lehrstück dafür, wie man es nicht machen sollte. Doch wirklich verwunderlich ist das Beispiel nicht.

Moralverständnis der Vormorderne

Seit mehr als drei Jahrtausenden leben Menschen in Kleingesellschaften, Familien, Stämmen und Dörfern zusammen. Bräuche und Sitten halten diese Gruppen zusammen. Sie basieren auf den Erfahrungen, die sich für das Zusammenleben bewährt haben. Hier fällt es sofort auf, wenn jemand die Regeln bricht. Eine Strafe garantiert, dass gewisse Normen gelten. In diesen Strukturen funktioniert soziale Kontrolle über moralische Gebote bestens.

Sen über Märkte, Moral und Demokratie

Doch mit der Modernisierung begann dieses System zu bröckeln, sagt der Wirtschaftsethiker Karl Homann, emeritierter Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Durch Industrialisierung, Arbeitsteilung, Wettbewerb, Marktwirtschaft und Globalisierung definieren sich Menschen nicht mehr nur über die Mitgliedschaft in ihrer sozialen Gruppe. Diese verlor an Autorität, ebenso wie der Nationalstaat. Es ist nun einfacher, nationale Gesetze zu umgehen. Verbietet Deutschland die Eizellenspende, buchen Paare eben den Flug nach Großbritannien, wo diese Art der künstlichen Befruchtung legal ist.

Moral, die zuvor den Zusammenhalt kleiner Gruppen gefestigt hat, taugt in solchen Strukturen nicht mehr. Denn die Menschen sind hochmobil und bewegen sich in unterschiedlichen Subsystemen wie Politik, Unternehmen oder der Wissenschaft – und die folgen jeweils eigenen Gesetzen. Doch mit der Erosion solcher Ordnungen schwindet auch die soziale Kontrolle. Das führt regelmäßig zu beklagenswerten Zuständen. Korruption, Menschenhandel, Textilkonzerne, die Flüsse vergiften. Die Fremdkontrolle, die in vormodernen Gesellschaften wirkte, hat ihre Grenzen erreicht.

Moderne Ethik braucht Eigenkontrolle

Genau wie ein Verständnis von Ethik, das weiterhin auf Tugendschulung setzt. Wie in traditionellen Gesellschaften will es Akteure allein über die persönliche Motivation steuern. Doch dadurch verliert die Moral – wenn die Rahmenbedingungen vermeintlich moralisches Verhalten nicht belohnen oder sogar bestrafen. Auch in der Unternehmenswelt. Ohne verbindliche, internationale Regeln sichern sich Konzerne, die auf teure Umweltstandards verzichten, Vorteile gegenüber klimabewussten Wettbewerbern. Denn gerade in einer globalisierten Welt bringt das Vorteile. Was also tun?

Moderne Ethik müsste die Markt- und Handlungsbedingungen verändern und auf Eigen- statt Selbstkontrolle setzen. Sie müsste die Bedingungen so gestalten, dass moralisch erwünschtes Verhalten Vorteile bringt – oder zumindest keine Nachteile. Wer Umweltverschmutzung eindämmen will, sollte also nicht gegen Unternehmen polemisieren. Sondern dafür sorgen, dass Gesetze Übeltätern tatsächlich schmerzhafte Strafen auferlegen. Nur dann werden sie befolgt. Die Kosten, die in der Dieselgate-Affäre auf Volkswagen zukommen, dürften Nachahmer abschrecken. Betrug, so die notwendige Botschaft, darf kein Wettbewerbsvorteil sein – sondern muss in finanziellen Einbußen und Reputationsverlust münden. Sobald sich Schlupflöcher auftun, erodiert die Moral.

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