Rund 2300 Polizisten waren am Freitag im Einsatz, der Tatort wurde großräumig abgesperrt, Spezialeinheiten wie die GSG 9 und die österreichische Cobra rückten an. Der öffentliche Nahverkehr wurde zeitweise eingestellt, der Hauptbahnhof geräumt. Wie bewerten Sie den Einsatz der Sicherheitsbehörden?
Die Sicherheitsbehörden haben in so einer Lage keine andere Möglichkeit. Sie müssen jeder Zeit vom Schlimmsten ausgehen. Über Stunden hinweg war die Lage ja vollkommen unklar. Es gab Gerüchte von weiteren Schießereien in der Stadt. Solange die Polizei diese nicht kategorisch ausschließen konnte, hätte es sich gestern in München um ein ähnliches Szenario wie in Paris im November 2015 handeln können.
Dort verübten mehrere Attentäter einer Terrorzelle zur gleichen Zeit Anschläge an verschiedenen Orten.
Deswegen wäre auch der Hauptbahnhof ein geeignetes Ziel gewesen. Insofern war es richtig, ihn zu sperren. Die Sicherheitskräfte müssen erst einmal die höchsten Vorsichtsmaßnahmen anwenden, bis sie sicher Entwarnung geben. Was München jedoch deutlich gemacht hat, ist eine steile Lernkurve der deutschen Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren. Die Reaktion war professionell und angemessen, die Informationspolitik sachlich, nüchtern und zu keinem Zeitpunkt spekulativ.
Chronik: Aufsehenerregende Anschläge in Deutschland
Mit Axt und Messer bewaffnet geht ein 17-jähriger Flüchtling aus Afghanistan in einer Regionalbahn bei Würzburg auf Fahrgäste los. Fünf Menschen werden verletzt, einige von ihnen lebensgefährlich. Polizisten erschießen den Attentäter, der sich in einem Video als Kämpfer der Terrormiliz IS bezeichnete.
Wenige Tage später sprengt sich ein 27-jähriger syrischer Flüchtling vor einem Musik-Festival in Ansbach mit einem Rucksack in die Luft. Er stirbt, 15 weitere Menschen werden verletzt. Auf einem Handy des Mannes gebe es eine Anschlagsdrohung als Video, sagt der bayerische Innenminister Joachim Herrmann. Der Täter kündige einen Racheakt gegen Deutsche an als Vergeltung, weil sie Muslime umbrächten.
Nach einer indischen Hochzeit verüben zwei junge mutmaßliche Salafisten aus Gelsenkirchen einen Bombenanschlag auf ein Gebetshaus der Sikhs in Essen. Drei Menschen werden verletzt. Die Ermittler gehen davon aus, dass es sich um einen gezielten Angriff mit terroristischem Hintergrund handelte.
Bei einer Kontrolle am Hauptbahnhof Hannover verletzt eine 15 Jahre alte Deutsch-Marokkanerin einen Bundespolizisten lebensgefährlich mit einem Messer. Nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft war die Attacke eine „Märtyreroperation“ für die Terrororganisation Islamischer Staat (IS).
Ein junger Kosovo-Albaner erschießt auf dem Flughafen Frankfurt/Main zwei US-Soldaten und verletzt zwei weitere schwer. Der Mann gilt als extremistischer Einzeltäter. 2012 wird er zu lebenslanger Haft verurteilt.
IS-Sympathisanten haben noch in der Nacht Videos ins Netz gestellt, die angeblich Opfer in München zeigen. Dabei wurde schnell klar, dass die Bilder nichts mit München zu tun hatten.
Das ist ein hochinteressantes Phänomen. Im Verlauf solcher möglichen Attentate taucht meist innerhalb nur weniger Minuten Material auf, dass angeblich den Tatort zeigen soll. Es gibt eine große Menge von IS-Sympathisanten und Propagandahelfer. Sie versuchen voreilig, die Tat in einen jihadistischen Kontext zu stellen, meist ohne jeden Beweis dafür zu haben. Man sollte sehr vorsichtig sein mit der Nutzung und Weiterverbreitung solcher Bilder, da man in der Lage nie weiß, wer dieses Material verbreitet und welches Ziel er damit verfolgt.
Der bayrische Innenminister hat schon nach der Axtattacke in Würzburg mehr Kameras und Überwachung gefordert. Ist das der richtige Weg?
In Würzburg und München handelte es sich bei den Tätern offensichtlich um Einzeltäter. Diesem Täter-Typus ist mit mehr Überwachung durch Kameras nicht beizukommen. Die Hinweise auf mögliche Radikalisierungsprozesse oder Interesse für Amoktaten können nur aus dem direkten Umfeld der Täter kommen. Für Sicherheitsbehörden ist es ungeheuer schwer, Einzeltäter oder einsame Wölfe im Vorfeld einer Tat zu identifizieren.
Müssen die Sicherheitsbehörden ihre Vorgehensweise überarbeiten?
Es gibt da durchaus noch Luft nach oben, insbesondere im Hinblick auf die Erkennung von Einzeltätern. Die israelischen Behörden zum Beispiel haben Maßnahmenkataloge entwickelt, anhand derer sich solche Täter leichter erkennen lassen. Die sind da relativ weit vorne. Dennoch bleibt es die schwierigste Aufgabe. Die Anti-Terror-Abwehr hierzulande ist bislang nicht auf die Erkennung potentieller Einzeltäter ausgelegt, sondern vor allem auf die Verhinderung großer Anschläge von Terrorzellen. Das sind noch die Nachwehen des 11. September. Doch der Terrorismus hat sich seither massiv weiterentwickelt.