Die Bundesregierung scheint eine Antwort gefunden zu haben auf die amerikanische Forderung nach erhöhten Verteidigungsanstrengungen. Sie kommt von Sigmar Gabriel und wurde bei „Anne Will“ auch von Klaus Scharioth, dem früheren deutschen Botschafter in Washington, propagiert: Man müsse gefälligst auch Deutschlands Ausgaben für die Flüchtlinge und für Entwicklungshilfe zu den Verteidigungsausgaben addieren. Die dienten schließlich auch der internationalen Stabilität und Sicherheit.
Bundeskanzlerin Angela Merkel vertrat diese Position auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Sie sprach von einem angeblich umfassenderen Sicherheitsbegriff, "der weit mehr ist als die Verteidigung". Sie glaubt, Sicherheit für Deutschland dadurch schaffen zu können, "dass Menschen anderswo vernünftig, gut leben können."
Dieser Merkelsche Sicherheitsbegriff ist jedoch eher eine fromme und spezifisch deutsche Wunschvorstellung als erwiesene Wirklichkeit. Er beruht eher auf dem tief verinnerlichten Antimilitarismus Deutschlands nach 1945 als auf der Realität. Oder will man ernsthaft weismachen, dass die Öffnung der deutschen Grenzen für syrische Flüchtlinge aus der Türkei irgendeinen Beitrag dafür leiste, den Syrienkrieg zu verkürzen? Auch gibt es – leider – große Zweifel an der stabilisierenden, Fluchtursachen beseitigenden Wirkung staatlicher Entwicklungshilfe in Afrika. Die neuere Migrationsforschung legt eher nahe, dass gerade der leicht gestiegene Wohlstand in Afrika und anderen Ländern die Auswanderungslust vieler Menschen dort befeuert.
Die Akteure im Syrien-Konflikt
Anhänger von Präsident Baschar al-Assad kontrollieren weiter die meisten großen Städte wie Damaskus, Homs, Teile Aleppos sowie den Küstenstreifen. Syriens Armee hat im langen Krieg sehr gelitten, konnte aber infolge der russischen Luftunterstützung seit September 2015 wieder Landgewinne verzeichnen. Machthaber Assad lehnt einen Rücktritt ab.
Die Terrormiliz beherrscht im Norden und Osten riesige Gebiete, die allerdings meist nur spärlich besiedelt sind. Durch alliierte Luftschläge und kurdische Milizen mussten die Islamisten im Norden Syriens mehrere Niederlagen einstecken. Unter der Herrschaft der Miliz, die auch im Irak große Gebiete kontrolliert, verbleibt die inoffizielle Hauptstadt Raqqa, die bedeutende Versorgungsstrecke entlang des Euphrat und ein kleiner Grenzübergang zur Türkei. Offiziell lehnen alle lokalen und internationalen Akteure den IS ab.
Sie sind vor allem im Nordwesten und Süden Syriens stark. Ihr Spektrum reicht von moderaten Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten.
Die zu Beginn des Kriegs bedeutende Freie Syrische Armee (FSA) hat stark an Einfluss verloren. Sie kämpft vor allem gegen Diktator Assad.
In der „Islamischen Front“ haben sich islamistische Rebellengruppen zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist der Sturz Assads und die Errichtung eines „Islamischen Staates“ – die gleichnamige Terrormiliz lehnen sie jedoch ab. Sie werden von Saudi-Arabien unterstützt und sind ideologisch mit al-Qaida zu vergleichen. Militärisch untersteht ihr auch die „Dschaisch al-Fatah“, die von der Türkei unterstützt wird. Teilweise kooperieren sie mit der al-Nusra-Front, Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida.
Sie ist zersplittert. Das wichtigste Oppositionsbündnis ist die Syrische Nationalkoalition in Istanbul. Diese wird von zahlreichen Staaten als legitim anerkannt, von vielen lokalen Akteuren wie al-Nusra oder der kurdischen PYD jedoch abgelehnt.
In Damaskus sitzen zudem Oppositionsparteien, die vom Regime geduldet werden. Bei einer Konferenz in Riad einigten sich verschiedenen Gruppen auf die Bildung eines Hohen Komitees für Verhandlungen, dem aber einige prominente Vertreter der Opposition nicht angehören.
Kurdische Streitkräfte kontrollieren mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei: Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS.
Dabei kämpfen sie teilweise mit Rebellen zusammen, kooperieren aber auch mit dem Regime. Führende Kraft sind die „Volksverteidigungseinheiten“ YPG der Kurden-Partei PYD, inoffizieller Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese streben einen eigenen kurdischen Staat an – die Türkei lehnt das vehement ab.
Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Beteiligt sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Deutschland stellt sechs Tornados für Aufklärungsflüge über Syrien, ein Flugzeug zur Luftbetankung sowie die Fregatte „Augsburg“, die im Persischen Golf einen Flugzeugträger schützt. Washington unterstützt moderate Regimegegner.
Die Türkei setzt sich für den Sturz Assads ein und unterstützt seit langem Rebellengruppen wie die islamistische Dschaisch al-Fatah. Neben der Sicherung ihrer 900 Kilometer langen Grenze ist die Türkei seit August 2016 auch mit Bodentruppen in Syrien vertreten. Ziel ist neben der Vergeltung für Terroranschläge des IS auch, ein geeintes Kurdengebiet im Norden Syriens zu verhindern.
Der Abschuss eines russischen Flugzeugs über türkischem Luftraum im November 2015 führte zu Spannungen zwischen Russland und der Türkei.
Seit September 2015 fliegt auch Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien. Moskau ist einer der wichtigsten Unterstützer des syrischen Regimes: Rebellenorganisationen werden pauschal als „Terroristen“ bezeichnet und aus der Luft bekämpft. Der Kampf gegen islamistische Rebellen soll auch ein Zeichen an Separatisten im eigenen Land senden.
Geostrategisch möchte Russland seinen Zugriff auf den Mittelmeerhafen Tartus nicht verlieren.
Teheran ist der treueste Unterstützer des Assad-Regimes, auch aus konfessionellen Gründen. Iraner kämpfen an der Seite der syrischen Soldaten. Die von Teheran finanzierte Schiitenmiliz Hisbollah ist ebenfalls in Syrien im Einsatz. Sie fürchten die Unterdrückung der schiitischen Minderheit im Falle eines Sieges sunnitischer Rebellen, aber auch den Verlust von regionalem Einfluss.
Riad ist ein wichtiger Unterstützer vornehmlich islamistischer Rebellen. Sie fordern, dass Assad abtritt. Saudi-Arabien geht es auch darum, den iranischen Einfluss zurückzudrängen. Der Iran ist der saudische Erzrivale im Nahen Osten.
Trotz religiöser Ähnlichkeiten zwischen IS und dem saudischen Wahabismus engagiert sich Saudi-Arabien im Kampf gegen den IS.
Und schon gar nicht ist einsehbar, wie diese deutschen Ausgaben für Afrika und Zuwanderung diejenigen Akteure abschrecken sollte, gegen die die gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen der NATO in erster Linie gerichtet sind: nämlich vor allem das aggressive Russland.
Nein, es ist eine geradezu kontrafaktische Vernebelung der politischen Kategorien, Militärausgaben, karitative Zuwanderungsalimente und Entwicklungshilfe (neuerdings „Bekämpfung von Fluchtursachen“ genannt) in einen Topf zu werfen. Auch für die Streitkräfte des friedliebenden Deutschland gilt die banale Tatsache: Streitkräfte sind keine humanitäre Einrichtung, sondern haben den Zweck, einem potentiellen Feind, Zerstörung und Tod beizubringen oder sie ihm glaubwürdig anzudrohen, falls er die eigene Sicherheit bedroht. Das ist so ziemlich das genaue Gegenteil von Entwicklungshilfe und Sozialleistungen für Einwanderer.
Rechtfertigung und Eskapismus
Zu erklären ist die Vernebelungsaktion der Bundesregierung durch zwei mögliche Motive. Zunächst dient sie vermutlich der nachträglichen Rechtfertigung und kommunikativen Einbettung der Grenzöffnungspolitik von 2015, die nicht nur bei einem wachsenden Teil der eigenen Bevölkerung, sondern auch bei fast allen verbündeten Staaten bestenfalls mit Befremden aufgenommen wurde. Nachdem Berlin erst vergeblich versuchte, die Europäer zum Einschwenken auf ihre Öffnungspolitik zu bewegen, gilt es nun, diesen Alleingang als im europäisch-westlichen Interesse darzustellen.
In dem Wunsch nach Anrechnung humanitärer Geldleistungen aufs unterfinanzierte Militärkonto kommt aber nicht zuletzt auch der alte sicherheitspolitische Eskapismus der Bundesrepublik wieder zum Tragen. Wie ihre Vorgängerinnen unter Kohl und Schröder glaubt die Bundesregierung offensichtlich, deutsches militärisches Handeln auf ein Minimum beschränken zu müssen – und selbst das am liebsten noch möglichst unmilitärisch erscheinen zu lassen. Während des Golfkrieges kaufte sich Kohl mit Milliardenzahlungen von der militärischen Teilnahme ganz frei. Aber auch zu Anfang des Afghanistan-Einsatzes erbat man sich von den Verbündeten, die Bundeswehr möglichst vor direkten Kampfhandlungen zu verschonen. Ganz klappte das dann bekanntlich nicht.
Die erstaunlich zahlreiche Präsenz deutscher Konzernlenker auf der Münchner Sicherheitskonferenz zeigt, dass auch in der Wirtschaft das Bewusstsein dafür gewachsen ist, dass Sicherheit die Grundlage nicht nur für die Freiheit sondern auch für eine funktionierende Marktwirtschaft ist. Charles-Edouard Bouée, Chef der Unternehmensberatung Roland Berger, nannte politische Unsicherheit als das „größte Risiko“ für die Wirtschaft.
Diese Sicherheit kann nur ein starker Staat leisten. Bisher haben die USA diese Rolle weitgehend auch für Deutschland übernommen. Unter Donald Trump scheint das nicht mehr uneingeschränkt der Fall zu sein. In Deutschland, das unter dem Schirm der USA und unter der Last der eigenen Geschichte gewohnt ist, Politik als moralische Entscheidung für das Gute zu betrachten, scheint man immer noch nicht wirklich klar darüber zu sein, was es bedeutet, Sicherheitsverantwortung zu übernehmen. Sie ist nicht darauf gerichtet die Welt „besser“ zu machen, wie es Merkel anmahnte, sondern sicherer. Diese Aufgabe lässt sich nicht entmilitarisieren.
Sie beruht schließlich darauf, allen potentiellen Gefährdern dieser Sicherheit glaubwürdig zu demonstrieren, dass man im äußersten Fall zum Einsatz von Gewaltmitteln bereit ist. Wäre Deutschland das?