Nach Attacken Deutschland verliert sich in absurden Debatten

Nach den Anschlägen debattiert Deutschland verängstigt. Ist Kanzlerin Angela Merkel schuld? Brauchen wir die Bundeswehr im Inneren? Und ist Sarah Wagenknecht überhaupt links? Rationale Antworten auf irrationale Fragen.

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In der Altstadt vom bayrischen Ansbach nach dem Anschlag. Quelle: dpa

„Der Islamische Staat führt einen brutalen Angriffskrieg auf unsere Gesellschaft.“ Das hat der bayrische Innenminister Joachim Herrmann in dieser Woche gesagt. Klar, für einen Innenminister, für den bayrischen insbesondere, gehören markige Sprüche zum Jobprofil.

Die Debatte über Bundeswehreinsätze im Inneren gehört zu den Klassikern der Bundesrepublik. Logisch, dass sie nach den Anschlägen in Würzburg und Ansbach, die der IS für sich reklamiert, wieder hochkocht. Und sie ist ein gutes Beispiel für die Überreaktion und irrationalen Debatten, die wir derzeit erleben. Vier Beispiele:

1. Einsatz der Bundeswehr im Inneren?

Keine Frage: Deutschland und insbesondere der Freistaat Bayern haben zwei schlimme Wochen hinter sich. Zu den beiden Anschlägen mit IS-Hintergrund kommt der Amoklauf von München, bei dem der Täter neun Menschen erschoss. Am Tatabend war lange unklar, ob womöglich eine islamistische Terrorbande durch die Stadt zieht. Das hätte ein ähnliches Szenario bedeutet, wie wir es Ende letzten Jahres in Paris erleben mussten. Damals starben 130 Menschen, mehrere Hundert wurden verletzt.

Deutschland trauert "mit schwerem Herzen"
Kanzlerin Merkel Bundeskanzlerin Angela Merkel lobt die Hilfsbereitschaft der Münchner in der Tatnacht, in der viele ihre Wohnungen Fremden zur Verfügung stellten. "In dieser Freiheit und Mitmenschlichkeit liegt unsere größte Stärke", sagt Merkel am Samstag. Deutschland trauere "mit schwerem Herzen um die, die nie mehr zu ihren Familien zurückkehren werden." Sie fügte an die Adresse der Angehörigen hinzu: "Wir denken an Sie, wir teilen Ihren Schmerz, wir leiden mit Ihnen." Quelle: dpa
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) forderte in der „Welt am Sonntag“, dass „wir in extremen Situationen“ wie Terroranschlägen „auch in Deutschland auf die Bundeswehr zugreifen können“. Quelle: AP
De Maizière: "Explosionen von Gewalt"Für Innenminister Thomas de Maizière waren es „Explosionen von Gewalt“, die in München zum Tod von neun unschuldigen Menschen führten. Der Amokläufer war nach den Worten de Maizières für die Sicherheitsbehörden zuvor ein unbeschriebenes Blatt. „Gegen ihn waren bisher keine polizeilichen Ermittlungen bekannt.“ Deswegen habe es auch keine staatsschutzrelevanten Informationen gegeben. „Und es gibt auch keine Erkenntnisse der Nachrichtendienste über diese Person.“ Möglicherweise sei der junge Deutsch-Iraner gemobbt worden. Dennoch sprach sich de Maizière dafür aus, die Einsatzkonzepte der Polizei noch einmal unter die Lupe zu nehmen. „Das wird sicher jetzt noch einmal überprüft werden müssen“, sagte der CDU-Politiker am Samstagabend in der ARD. Und gegenüber der „Bild am Sonntag“ sagte er, dass zunächst ermittelt werden müsse, wie der Amokläufer an die Tatwaffe gelangt sei. „Dann müssen wir sehr sorgfältig prüfen, ob und gegebenenfalls wo es noch gesetzlichen Handlungsbedarf gibt.“ Quelle: dpa
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel Quelle: dpa
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) Quelle: dpa
Münchner OB - "Unsere Stadt steht zusammen" Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter äußert sich über die Tat entsetzt. Alle städtischen Feste und Feiern seien für dieses Wochenende abgesagt. "Es sind schwere Stunden für München." Er sei von der großen Hilfsbereitschaft und Solidarität beeindruckt. "Unsere Stadt steht zusammen." Quelle: dpa
Unionsfraktionschef Volker Kauder warnt vor einer Ausbreitung von Hass und Gewalt. Noch sei nicht bekannt, was den Attentäter zu den Morden getrieben habe. "Unabhängig davon, was seine Motive waren und wie sich seine persönliche Disposition darstellt, müssen wir aber noch mehr darauf achten, dass sich Hass und Gewalt in unserer Gesellschaft generell nicht weiter ausbreiten." Quelle: dpa

Doch die Fakten sind eben anders. Wir haben in kurzer Zeit zwei islamistische Attentäter erlebt, die Menschen töten wollten (Würzburg und Ansbach). In Reutlingen tötete ein syrischer Flüchtling eine Frau – offenbar eine Beziehungstat.

Die Bundeswehr hätte wohl keinen der Täter im Vorhinein stoppen können. In Würzburg hielten schließlich Polizisten eines Spezialeinsatzkommandos den Angreifer auf. Und in München hat die Polizei eindrucksvoll gezeigt, wie sie binnen kürzester Zeit 2300 Beamte auf die Straßen bringen kann, die die Lage verhältnismäßig schnell unter Kontrolle kriegten.

Was hätten die knapp 100 Militärpolizisten tun sollen, die Verteidigungsministerium Ursula von der Leyen kurzerhand in Bereitschaft versetzte? Der Bundeswehrverband hat dafür kein Verständnis. „Die Bundeswehr ist keine Hilfspolizei“, sagte der stellvertretende Verbandsvorsitzende Andreas Steinmetz.

Definitionen und Zusammenhänge

Kurz: Militärs kümmern sich um Kriege und Einsätze im Ausland, Polizisten um die Sicherheit im Inland. Das Prinzip hat sich bewährt und sollte Bestand haben.

2. Ist Angela Merkel schuld?

Angela Merkel hat die Flüchtlinge ins Land gelassen, also ist sie für die Anschläge in Würzburg und Ansbach verantwortlich. Wer Leserkommentare auf Nachrichtenseiten, Facebook oder Twitter verfolgt, stößt auf diese Meinung. CSU-Chef Horst Seehofer lastet Merkel die Schuld nicht direkt an, sagt aber: „Wir haben mit allen unseren Prophezeiungen recht bekommen.“

Nun könnte man spitzfindig argumentieren, die Täter von Würzburg und Ansbach seien nach Deutschland gekommen, bevor sich Merkel zu ihrer liberalen Flüchtlingspolitik im Herbst 2015 entschieden hatte. Der Ansbacher Täter, ein Syrer, war im August 2014 eingereist. Der Würzburger Täter, der aus Afghanistan oder Pakistan stammt, kam im Juni 2015 in die Bundesrepublik.

Viel entscheidender ist aber folgender Punkt: Potentielle Terroristen wären auch im Land gewesen, wenn Deutschland eine Obergrenze definiert hätte. Wenn Merkel nach 200.000 Flüchtlinge die Grenze geschlossen hätte, wären auch unter dieser Personengruppe potentielle Attentäter gewesen oder Menschen, die sich in Deutschland radikalisieren könnten. Wer islamistischen Terrorismus aus Syrien, Irak oder Afghanistan verhindern will, darf keinen einzigen Menschen aus diesen Ländern aufnehmen. Und das fordert nicht mal Seehofer.

Was aber stimmt: Der zeitweilige Kontrollverlust, die hunderttausendfache Nicht-Registrierung von Flüchtlingen über Monate, war sicherlich nicht förderlich im Sinne einer positiven Sicherheitslage.

3. Schützt uns Merkels Willkommenskultur vor Terrorismus?

Wenn die Merkel-Kritiker schreien, dauert die Antwort der Kanzlerinnen-Anhänger für gewöhnlich nicht lange. So auch in diesem Fall. Der britische Independent argumentiert, Deutschland sei langfristig besser vor Terrorismus geschützt, eben weil die Kanzlerin hunderttausende Muslime ins Land gelassen hat. Die Flüchtlinge – so die Hoffnung – werden zu Botschaftern für Deutschland in ihren Heimatländern.

Deutschland ist ein tolles Land, lasst es in Frieden – dürfte dieser Gedanke, den die Flüchtlinge in ihre Länder tragen könnten, in etwa lauten. Mit Verlaub: Das ist naiv.

„Bayern erlebt Tage des Schreckens“
Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer Quelle: dpa
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann Quelle: dpa
Bundesinnenminister Thomas de Maiziere Quelle: dpa
Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig Quelle: dpa
Bayerns Justizminister Winfried Bausback Quelle: dpa
Belgiens Premierminister Charles Michel Quelle: dpa

Die meisten Opfer des Islamischen Staates sind Muslime. Die Annahme, dass die Terrororganisation einen Staat verschonen könnte, weil dort viele Muslime leben, deckt sich nicht mit der Realität. Und der Streit um die Verantwortlichkeit der Kanzlerin zeigt, wie sehr die Anschläge in Bayern schon instrumentalisiert werden – von beiden Seiten.

4. Ist Sarah Wagenknecht eine verkappte Nationalistin?

Wie links die Fraktionsvorsitzende der Linken wirklich ist, debattiert die Partei immer mal wieder. Es ist eine berechtigte Frage. Nach den Anschlägen sagte Wagenknecht in einem Fernsehinterview, „dass die Aufnahme und Integration einer sehr großen Zahl von Flüchtlingen und Zuwanderern zumindest mit erheblichen Problemen verbunden und sehr viel schwieriger ist als Frau Merkel uns das im letzten Herbst mit ihrem ‚Wir schaffen das‘ einreden wollte“.

Chronik: Aufsehenerregende Anschläge in Deutschland

Der Widerspruch aus ihrer eigenen Partei kam sofort. „Wer Merkel von rechts kritisiert, kann nicht Vorsitzender einer Linksfraktion sein“, sagte Jan van Aken, außenpolitische Sprecher der Linksfraktion.

Ja, Wagenknecht bekam sofort Zuspruch aus der AfD. Doch ihre Position ist nichts anderes als banaler Mainstream. Dass sie sie in diesem Moment geäußert hat, war unklug, weil sie damit den Eindruck erweckt hatte, friedliche Flüchtlinge mit Terroristen in Zusammenhang zu bringen.

Gegen die Bestandsaufnahme – die Integration wird ein langer und schwieriger Prozess – dürfte aber kaum jemand etwas einzuwenden haben – weder CDU noch SPD, auch nicht weite Teile der Linken. Vielmehr hat sich an der Frage der alte Konflikt zwischen Wagenknecht und Teilen ihrer Partei hoch geschaukelt.

Was bleibt: Der bayrische Innenminister will das Land im Notfall mit Militär stabilisieren. Andere suchen die Schuld bei Angela Merkel – oder wahlweise das Heil. Und die Linksfraktion überlegt ihre Chefin loszuwerden, weil sie scheinbar nationalistische Aussagen verbreitet. Deutschland ist schwer verunsichertes und hyperventiliert.

Den Islamischen Staat freut das.

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