Nach dem Koalitionsvertag Angst bestimmt die deutsche Politik

Das Reichstagsgebäude, Sitz des Bundestages Quelle: dpa

Ob Digitalisierung, Rente oder Steuern: Deutschlands Wirtschaft und Politik werden getrieben von Angst. Das ist ein Erfolg für die AfD – und eine Gefahr für Deutschland als Wirtschaftsstandort.

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Alexander Gauland hatte leichtes Spiel. Aus Angst vor dem SPD-Mitgliederentscheid habe sich die CDU ideologisch und handwerklich vollkommen entleert, erklärte der AfD-Fraktionschef zur Vorstellung des Koalitionsvertrags. Eine Obergrenze gebe es mit der neuen Regierung faktisch nicht, die europäische Transferunion sei so gut wie beschlossene Sache. Damit hatte Gauland seinen Auftrag erfüllt – und mal wieder ein wenig Angst verbreitet.

Angst ist ein diffuses Gefühl. Sie ist flüchtig, nicht greifbar, kaum zu kontrollieren. Ein Zustand, der fast nie zu guten Entscheidungen führt - und trotzdem seit Monaten wie Tau über vielen Debatten in Deutschland liegt.

Mit der Angst vieler Bürger fängt es an. Sie leben zwar in einem der reichsten Länder der Erde, aber wirklich zufrieden sind sie trotzdem nicht. Vielmehr fürchten sie Flüchtlinge und Windräder, steigende Mieten und die EU. Den eigenen sozialen Abstieg und wirtschaftliche Rezession. Handelsabkommen und steigende Preise. Manche Ängste sind nachvollziehbar, viele aber unbegründet. Der AfD ist das egal. Wie ein chemischer Indikator zeigt sie alle Ängste an, nimmt sie auf, facht sie an.

Vor diesem Mechanismus ängstigen sich die anderen Parteien. Sie fürchten, dass ihnen die Wähler davon laufen. Dass sie flüchten in die Politikverdrossenheit, ins Private oder zur AfD. Deswegen tun CDU und SPD alles, um bloß niemanden zu verprellen – und möglichst viele Ängste zu lindern. Für jede einzelne Angst bieten sie eine Kur an. So wollen sie die Flucht ihrer Wähler stoppen.

Diese Mutlosigkeit schlägt sich im Koalitionsvertrag und beim Personal nieder. Statt Macron gibt es in Deutschland Merkel-Seehofer-Schulz. Statt Aufbruchsstimmung 177 Seiten Papier. Statt großer Zukunfts-Erzählung ein Frickelwerk voller gut gemeinter Angst-Blockaden.

Man kann dieses Stückwerk etwa beim Thema Digitalisierung festmachen. Dort werden ein nationaler Cybersicherheitspakt, eine Breitbandoffensive und eine digitale Verwaltung angekündigt. Gute Vorhaben, aber einen zentralen Ansprechpartner, der eine echte Zukunftsvision vorantreiben könnte, gibt es nicht. Ein anderes Beispiel sind die Steuern. Hier entlastet die Soli-Abschaffung viele Bürger. Von den großen CDU-Vorhaben oder einen Reform aber ist wenig übrig geblieben. Und auch bei der Rente sieht es ähnlich aus. Deren Niveau wird bis 2025 garantiert – wäre bis dahin aber wohl auch ohne großes Zutun der Politik stabil geblieben.

Wer will, kann diese Liste lange weiterführen. Doch der Mechanismus bleibt immer gleich. Mit vielen Worten und viel Geld werden Ängste nach und nach zugekleistert. Gerade deswegen aber läuft die Taktik ins Leere. Denn Angst ist nicht rational. Mit Klein-Klein-Lösungen lässt sie sich nicht wegfegen. Nicht mit 25 Euro mehr Kindergeld pro Monat und auch nicht mit der Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung. Angst ist eine Stimmung, eine Emotion. Und davon gibt es im Koalitionsvertrag und in der neuen Regierung fast nichts.

Populisten, wie es viele Politiker in der AfD sind, haben sich dagegen auf genau diese Disziplin spezialisiert. Emotionen und Gefühle sind ihre Verkaufsschlager, ihr Unique Selling Point, wenn man so will. 

Für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist das alles eine Gefahr. Angst ist das Gegenteil von Mut. Und ohne Mut wird es keine neuen Ideen geben. Ohne Mut kein Risiko, keine Innovationen, kein Wachstum. Das alles aber ist nötig, um die aktuelle Stärke der Wirtschaft fortzuführen. Glaubt man Prognosen, ist der aktuelle Boom-Zyklus in drei, vier Jahren vorbei. Doch statt jetzt die Zukunft zu arrangieren, reagieren Wirtschaft und Politik auf solche Nachrichten mit Angst.

Der Koalitionsvertrag wäre eine große Chance gewesen, der latenten Angst im Land viel Aufbruchsstimmung, Vision und Mut entgegenzusetzen. Und in einigen Punkten schimmern Ansätze dazu sicherlich durch. Wer sich allerdings umhört bei Politikern und Wirtschaftsvertretern, dem begegnen derzeit eher Zynismus, Lästereien und Resignation. Für eine erfolgreiche und angstfreie Zukunft ist das ein bisschen wenig – und freut nur eine Partei: die AfD.

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