Nach den Übergriffen von Köln

#Medienkrise

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Eine vergeistigt-subtilen Weltblindheit

Vollends deprimierend ist, dass Augsteins kultureller Selbsthass unter feministischen Vorzeichen noch steigerungsfähig ist. In der aktuellen Ausgabe des „Philosophie-Magazins“ etwa antwortet die Münchener Literatur-Professorin Barbara Vinken auf die Frage, ob der hohe Anteil (muslimischer) Männer unter den Flüchtlingen aus feministischer Sicht eine Herausforderung darstelle: „Der Diskurs über den Orient und seine so vielversprechende wie bedrohliche Sexualität scheint mir, kurz gesagt, Symptom von Kastrationsangst… Sollten wir nicht hoffen, dass die neuen Männer, seien es Syrer oder Araber, ihren Frauenkult mitbringen und altdeutsche Ängste beschämen?“ Offen gestanden, Frau Vinken: Vielleicht sollten wir das eher nicht hoffen. Nun sei zugestanden, dass Barbara Vinken das Stück ganz sicher vor den Ereignissen in Köln geschrieben hat. Allein: Das macht es nicht besser. In welche Multikulti-Träume oder literarische Gegenwelten muss man versponnen sein, um mit Blick auf den heutigen Oman oder Kuwait an den „Frauenkult der Araber“ zu denken?

Der vergeistigt-subtilen Weltblindheit auf der gefühlslinken Seite steht die rhetorisch robuste Ideologie der nationalbürgerlichen Rechten gegenüber, die ganz bewusst Vokabeln der Vorgeschichtlichkeit und Barbarei („Jagd“, „Horde“, „Freiwild“) benutzt, um in den Köpfen der Menschen eine unüberbrückbare Kluft zwischen „kultivierten Deutschen“ und „arabischen Wüstlingen“ herzustellen: Nicht mit ihrer Berichterstattung an sich, wohl aber mit ihrer Wortwahl instrumentalisieren sie die schlimmen Ereignisse in Köln, um die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin zu korrigieren. Das ist vor allem deshalb leicht zu durchschauen, weil der Wille zu Einäugigkeit bei den einschlägigen Autoren (etwa auf dem Portal des ehemaligen WiWo-Chefredakteurs Roland Tichy) nachweislich ausgeprägt ist.

Wer in selbstheroischer Absicht von sich annimmt, das Nachrichten- und Meinungswesen in Deutschland werde von linksgrünen „Gutmenschen“ beherrscht, in deren Köpfen lauter Scheren klappern (eine Polemik dazu hier) wer sich in Szene setzt als unbequeme Stimme, die dem sozialdemokratisierten „Mainstream“ den Spiegel seiner systemkongruenten Verlogenheit vorhält, wer von sich annimmt, das aus „politischer Korrektheit“ kartellhaft Beschwiegene öffentlich machen zu müssen, kurz: wer sich imaginiert als eine Art Freiheits- und Wahrheitspartisan im Kampf gegen die Übermacht der „Lügenpresse“, der bringt bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu wenig Unverständnis auf für den Sittenverfall auf Seiten „besorgter Bürger“.

Das Ergebnis ist nicht nur eine peinlich polare, sondern auch eine peinlich beschädigte Medienlandschaft. Das ZDF zum Beispiel meinte vergangene Woche allen Ernstes eine Entschuldigung veröffentlichen zu müssen: Sie war der Meinung, über die Ereignisse in Köln zu spät berichtet zu haben. Was soll das? Fängt das Gift des „Lügenpresse“-Vorwurfs tatsächlich schon zu wirken an? Wie ist es um das Selbstbewusstsein einer Branche bestellt, die nicht die Souveränität besitzt, einen milden Shitstorm von twitternden Verirrten auszuhalten, die Parallelen zwischen der deutschen und neupolnischen (oder russischen) Presselandschaft ziehen?

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