Zu den üblichen Vorwürfen gegen Berufspolitiker gehört: Ihr klebt doch nur an eurem Mandat, lauft dafür den Wählern hinterher.
Vermutlich ist an diesem Vorurteil, wie an den meisten, durchaus etwas dran. Aber zumindest die Geschichte der CDU in den vergangenen zwölf Monaten relativiert es deutlich. Wir erleben das Spektakel einer offensichtlich masochistisch veranlagten Partei, die sich eine Backpfeife nach der anderen fängt – ohne sich zu beklagen.
Wenn die CDU-Abgeordneten, oder zumindest diejenigen unter ihnen, die auf den Landeslisten nicht weit oben stehen, wirklich für ihr Mandat zu allem bereit wären, dann wäre ein innerparteilicher Aufstand längst überfällig. Mal ganz abgesehen von der Frage, welche Politik im Sinne des Landes und der eigenen Wähler sachlich angebracht wäre.
Allein schon aus purem Machterhaltungswillen hätte die Schicht der mittleren Mandats- und Funktionsträger längst einen Kurswechsel oder gleich den Abtritt der Kanzlerin erzwingen müssen, die sich auf diesen Kurs versteift hat, der die Wähler vertreibt. Könnte man meinen.
Das Ausbleiben ernsthafter Umsturzversuche innerhalb der Partei erscheint mittlerweile nach einer neuerlichen schallenden Ohrfeige aus den Bundesländern geradezu gespenstisch. Wie macht Merkel das nur? Von Erdogan lässt sie sich weltöffentlich demütigen, vom Wähler lässt sie sich wiederholt ohrfeigen, doch die eigene Partei hat sie so sicher im Griff, dass kaum jemand einen Mucks von sich gibt.
Die Mandatsträger der CDU scheinen das Missfallen ihrer Parteichefin mehr zu fürchten als den Verlust ihrer Wähler an die AfD. Man fragt sich, was nun zum Beispiel all die nicht mehr im neuen Schweriner Landtag vertretenen bisherigen Abgeordneten gegen ihre Parteichefin empfinden. Schließlich sind sie, wie alle Beobachter einmütig feststellen, allein wegen der von Merkel vertretenen Flüchtlingspolitik abgewählt worden. Sie haben sich für Merkel opfern lassen. Ende nächsten Jahres werden eine ganze Reihe von Bundestagsabgeordneten ihre Büros räumen und ihre Mitarbeiter entlassen müssen. Wenn alles so weitergeht, wie bislang.
Von genereller Unzufriedenheit mit dem Berliner Kurs hört man oft – doch kaum jemand lässt sich zitieren. Bisher ist keine Fronde erkennbar, die den Namen verdient. Ansätze dazu brachen im vergangenen Herbst im Anfangsstadium zusammen. Ein kritischer Aufruf des konservativen „Berliner Kreises“ verpuffte ohne parteiinternen Widerhall.
Einer der wenigen namhaften Bundestagsabgeordneten, die als Aushängeschild (weniger als Anführer) in Frage kämen, Wolfgang Bosbach, hat kürzlich das Handtuch geworfen. Er wird nicht mehr antreten.
CDU reagiert arrogant und ignorant
Die Fronde findet in der Schwesterpartei CSU statt – aber selbst dort nur mit angezogener Handbremse. Angeblich, so die "Bild"-Zeitung, spielt deren Chef Horst Seehofer mit dem Gedanken als CSU-Spitzenkandidat zur kommenden Wahl an- und als „starker Mann“ und Gegenpol zu Merkel in ein neues Kabinett einzutreten. Auf den Sturz der Kanzlerin hofft man da anscheinend auch nicht.
Aus der CDU vernimmt man statt Merkel-Kritik Reaktionen von verblüffender Arroganz und unfassbarer Ignoranz. Ruprecht Polenz beschimpfte indirekt die ungebildeten Wähler: "Wenn in einem Land mit der geringsten Bevölkerungsdichte und den wenigsten Flüchtlingen 22 Prozent die AfD wählen, aus Angst vor Flüchtlingen, dann sollte die Regierung nicht ihre Flüchtlingspolitik überprüfen. Sondern ihre Bildungspolitik."
Bundesinnenminister Thomas de Maizière behauptet entgegen aller Evidenz, dass die Erfolge der AfD nichts mit der Flüchtlingskrise zu tun hätten. Man fragt sich, in welchem Land dieser Minister die letzten zwölf Monate verbracht hat. Die Bundeskanzlerin selbst gab in ihrer Stellungnahme vom G20-Treffen in China zu, dass es darum bei den Wahlen gegangen sei.
Zu erklären ist diese Mischung aus sturer Nibelungentreue und Fatalismus nicht rational, sondern allenfalls partei-psychologisch. Da die Kanzlerin alle konkurrierenden Führungspersönlichkeiten längst beseitigt hat und die CDU seit der Kohl-Ära die programmatische Arbeit eingestellt und dadurch das übers Taktische hinausgehende politische Denken verlernt hat, fehlt dem Widerstand gegen den aktuellen Kurs sowohl das Personal als auch die leitende Idee. Der Horror Vacui, die schiere Angst vor dem völligen Zerfall dieser morschen Partei, verführt ihre Mandats- und Funktionsträger dazu, die Reihen umso fester um die Anführerin zu schließen. Nur sie allein steht noch für Bedeutung und Macht.
Wenn immer manche Journalisten oder externe Beobachter den Sturz Merkels an die Wand malen, reagiert die Partei mit umso stärkeren Beschwörungen der Treue. Der äußerliche Höhepunkt dieses seltsamen Reflexes war die bizarre Klatschorgie auf dem Parteitag von Karlsruhe. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, angesichts eines offensichtlichen Kontrollverlusts der von Merkel geführten Bundesregierung und inmitten von Gerüchten über das Ende der Ära Merkel klatschten sich die Delegierten buchstäblich ihre Angst von der Seele.
Seither hört man von CDU-internen Merkel-Kritikern bisweilen die Bitte: Wenn ihr wollt, dass Merkel gestürzt wird, dann schreibt nicht darüber.