Als Naturwissenschaftler ist Aristoteles out. Doch mit einer seiner fast 2300 Jahre alten Einsichten erlebt der Philosoph seit 40 Jahren eine Renaissance: Für alles gibt es eine Grenze. Die gleiche Botschaft verbreitet seit 1972 auch Dennis Meadows mit seinem 1972 erschienenen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“. Die enorme Nachwirkung des Berichts und die gerade in den letzten Jahren anschwellende Flut wachstumsskeptischer Literatur von Meinhard Miegel ("Exit") und Harald Welzer ("Selbst Denken") bis Robert & Edward Sidelsky ("Wie viel ist genug?") sind ein Indiz für den Konflikt zwischen zwei entgegengesetzten Bedürfnissen in den entwickelten Gesellschaften:
Der von den Renditezielen der Kapitaleigner angetriebene und scheinbar unstillbare Wachstumshunger trifft auf das zunehmende Unbehagen vieler Menschen an den externen Folgen des Wirtschaftswachstums. Einen wirkungsvollen Ausdruck fand dieses Unbehagen in dem Begriff der „Nachhaltigkeit“. Er wurde 1987 in dem so genannten Brundtland-Bericht einer Kommission der Vereinten Nationen geboren. Beziehungsweise wiedergeboren. Denn bekanntlich stammt er vom Begründer der Forstwirtschaft Hans Carl von Carlowitz, der 1713 schrieb, "wie eine sothane [solche] Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen, daß es eine continuirliche beständige und nachhaltige Nutzung gebe, weil es eine unentbehrliche Sache ist, ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag".
Während am Wortsinn bei Carlowitz kein Zweifel herrschen kann, verschwindet der Begriff in jüngerer Zeit mit wachsender Geschwindigkeit in einem Nebel der gewollten Verschwommenheit. Wer den Begriff ernst nimmt, kann darunter nur verstehen, dass nur so viel verbraucht werden darf, wie nachwächst. Ein unbegrenztes Wachstum von was auch immer kann also nicht nachhaltig sein.
Die Definition der Brundtland-Kommission wich davon ab, indem sie von einer „nachhaltigen Entwicklung“ sprach, „die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Da ist schon ein gewisser Spielraum für Interpretationen drin.
Das Wunder des grünen Puddings
Diesen Spielraum erweitern und nutzen seither professionelle Nebelwerfer in Unternehmen, Parteien und unzähligen Interessengruppen ausgiebig. Der Begriff der Nachhaltigkeit wird bewusst entkernt. So lange wurde er durch den Wolf der PR-Abteilungen gedreht und mit dem Adjektiv „grün“ verwurstet, dass kaum etwas vom ursprünglichen Sinn erkennbar bleibt – außer dem diffusen positiven Gefühl, das man dabei hat. Das Ziel der Sprachpanscherei ist, was Harald Welzer „das Wunder des grünen Puddings“ nennt: Die scheinbare Aufhebung des logischen Gegensatzes durch die Verbindung von Nachhaltigkeit und Wachstum. Der grüne Pudding ist einer, den man gleichzeitig essen und behalten kann.
Einer der geschicktesten und erfolgreichsten Nebelwerfer des „nachhaltigen Wachstums“ ist der Grünen-Prolitiker und Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks: „Intelligent wachsen!“ sei die Lösung, verkündet er in seinem gleichnamigen Buch. Es trägt den Untertitel „Die grüne Revolution“. Ehrlicher wäre: „Die grüne Illusion“.
In diesem Buch finden sich die notwendigen Zaubersprüche, die das Wunder wahr machen sollen: Statt Grenzen des Wachstums verspricht Fücks das „Wachsen der Grenzen“ oder „Wachsen mit der Natur“. Grenzen seien schließlich „beweglich“. Von neuen, noch gar nicht existierenden „hocheffizienten Technologien“ ist da viel die Rede und vor allem von der „Entkoppelung“ des Ressourcenverbrauchs vom Wirtschaftswachstum.
Man fragt sich, was denn da wachsen soll, wenn es keine zusätzlichen Ressourcen verbraucht. Das Gesetz von der Erhaltung der Masse - aus Masse kann nicht mehr Masse werden – lernt jeder Schüler in der ersten Stunde des Chemieunterrichts.
Aus dem Widerspruch, kommt man nur raus, wenn man entweder von „qualitativem Wachstum“ schwadroniert, was Glück oder Lebensfreude oder was auch immer sein kann, nur eben kein Wirtschaftswachstum, das sich an der Produktion von Waren und Dienstleistungen bemisst. Oder dadurch, dass man die Wunschvorstellung von einem „nachhaltigen“, „grünen“ oder „vom Ressourcenverbrauch entkoppelten“ Wirtschaftswachstum durch begleitendes Hokuspokus nährt.
Effizienzgewinne sind nicht nachhaltig
Zum Beispiel durch den Hinweis darauf, dass heute eine Windkraftanlage viel weniger Rohstoffe, Energie und Herstellungsaufwand kostet verglichen mit einem vor zehn Jahren. Wenn man immer so weiter mache, nähern sich die Einsparungen, so das alchemistische Versprechen, irgendwann einer absoluten Effizienz an. Zugleich versprechen sich Wirtschaftspolitiker aller Parteien von solch einer „grünen“ Wirtschaftsstrategie Arbeitsplätze, Wettbewerbsvorteile, neue Märkte – kurz: Wirtschaftswachstum. Nicht nur bei den Grünen, sondern auch in allen anderen Parteien schwärmt man also von einem solchen „green new deal“ oder „grünem Wachstum“ oder einer „green economy“.
Tatsächlich ist das einzig neue und revolutionäre daran nur die grüne oder nachhaltige Worthülse. Denn das Prinzip dahinter ist alt: Effizienzsteigerungen gehören seit jeher zum Kapitalismus dazu. Auch ein Hüttenbetreiber im frühindustriellen England kochte den Stahl dank verbesserter Verfahren mit immer weniger Kohle. Aber das Ergebnis solcher Produktivitätsfortschritte war und ist in der bisherigen Wirtschaftsgeschichte nicht, dass mit weniger Aufwand das gleiche produziert, sondern der Gewinn sofort in Mehrproduktion umgesetzt wird.
Wirklich nachhaltig wären Effizienzsteigerungen aber nur, wenn sie bedeuteten, dass der Verbrauch an nicht nachwachsenden Rohstoffen und Land, sowie die Belastung der Aufnahmefähigkeit der Ökosysteme durch Schadstoffe völlig aufhörte.
Auch wer weniger Öl, Gas, Kohle, Erz oder was auch immer verbraucht, konsumiert endliche Naturressourcen. Er wirtschaftet dadurch vielleicht effizienter als seine Vorgänger, aber nicht wirklich nachhaltig. Irgendwann sind nicht nachwachsende Ressourcen aufgebraucht. Eines Tages wird auch durch Fracking kein Gas oder Öl mehr aus den Tiefen zu pressen sein. Dann ist eine absolute Grenze des Wachstums erreicht – egal ob man es zuvor „grün“ oder „nachhaltig“ nannte.
Das rechte Maß finden
Wirtschaftswachstum ist wie jedes andere Wachstum nicht grundsätzlich gut oder schlecht. Das rasante Wirtschaftswachstum Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg oder in China seit den 1980er Jahren ist anders zu bewerten als das durch Staatsschulden hochgeprügelte Wachstum der Industriestaaten in den vergangenen 30 Jahren.
Junge Pflanzen, Tiere oder Menschen wachsen natürlich. Doch ebenso natürlich ist, wie Goethe so schön sagt, „dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.“ Ungebremstes, übermäßiges Zellwachstum – Hyperplasie – tut bekanntlich keinem Organismus gut, sondern führt zum Tod, wenn es die Grenzen der Belastbarkeit überschreitet.
Wirtschaftswachstum erscheint derzeit für das Funktionieren der Gesellschaft notwendig, aber das ist kein unabänderliches Naturgesetz, sondern liegt in der menschengemachten Organisation der Wirtschaft und der Staaten begründet. Und die verändert sich, wenn Menschen das wollen. Kein höheres Gesetz verdammt uns zum endlosen Wirtschaftswachstum. Es liegt in unserer Hand. Die Wirtschaft wächst, wenn Menschen es können und wollen – und solange die Natur die Rohstoffe dazu hergibt.
Zu dieser kollektiven Verantwortung gehört auch, dass wir uns nicht aus Bequemlichkeit und Feigheit einreden, wir könnten beides zugleich haben: Unbegrenztes Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit, steigenden materiellen Wohlstand und ein unbeflecktes gutes Gewissen angesichts der Kosten, die wir der Umwelt und unseren Nachkommen aufbürden. Wer das verspricht, lügt.
Und so stehen wir nach zweieinhalb Jahrtausenden abendländischer Geschichte und zweieinhalb Jahrhundert Industriegeschichte wieder wie die alten Griechen vor der Inschrift des Orakels von Delphi: Nichts im Übermaß! Eine ungeheure Aufgabe, denn nichts fällt dem Menschen schwerer, als das rechte Maß zu finden.