Nachruf auf Helmut Kohl Der Kanzler mit Sinn für historische Größe

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Werkzeug der Geschichte

Doch Kohl („Führen heißt, eine Vision in die Realität umsetzen.“) ist auch diesmal bereit, Deutschland zur europäischen Subsidiarmacht zu schrumpfen - koste es, was es wolle. Gegen den Willen seiner Finanzminister, gegen den Einspruch der Bundesbank und erst recht gegen die Wirtschaftsdaten einiger Euro-Länder, verzichtet Kohl auf Deutschlands Status einer finanziellen Nuklearmacht und setzt 1991 in Maastricht seinen Fahrplan zur Währungsunion durch. Der Euro soll forcieren, was geschehen muss, weil in den Geschichtsbüchern von morgen geschrieben steht: Und siehe, Europa ward friedlich, einig, eins. Noch 2002, bei der Einführung des Euro, ist Kohl von der historischen Tragweite seiner Entschlusskraft, vom „Geist der Geschichte“ ergriffen: „Ich bin mir sicher: In fünf oder sechs Jahren werden auch die Briten mit dem Euro zahlen… In zehn Jahren wird es die einheitliche Währung auch in Zürich geben.“

Erinnerung an Einheit und Einigung

Was also bleibt von Helmut Kohl? Nun - exakt das, wovon er träumte: die Erinnerung an den „Kanzler der deutschen Einheit“ und an den „Kanzler der europäischen Einigung“. Sicher, der ökonomische Preis seiner postnationalen Europapolitik wird heute viel höher veranschlagt als damals - und die politische Dividende niedriger. Mehr noch: Der EU droht heute ausgerechnet von Seiten jener Gefahr, die Europa als politischen Wert an sich verheiligen, es sich gleichzeitig zur Beute ihrer nationalen Egoismen machen und meinen, es mit dem ökonomischen Einmaleins nicht so genau nehmen zu müssen.

"Deutschland – ein kollektiver Freizeitpark"
22. Juni 1993: „Meine Lebenserfahrung nach fast elf Jahren in der EG: Wenn irgendwo Geld gebraucht wird, wendet man stumm den Blick auf die Deutschen.“Kohl vor Journalisten am 22. Juni 1993 auf dem EG-Gipfel in Kopenhagen Quelle: AP
Menschlichkeit der Gesellschaft: „Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sie mit den schwächsten Mitgliedern umgeht.“Kohl im Mai 199 Quelle: dpa
Vergleich mit Goebbels: „Er ist ein moderner kommunistischer Führer, der sich auf Public Relations versteht. Goebbels, einer von jenen, die für die Verbrechen der Hitler-Ära verantwortlich waren, war auch ein Experte in Public Relations.“Kohl in einem Interview mit dem US-Nachrichtenmagazin „Newsweek“ im Oktober 1986 über Michail Gorbatschow Quelle: dpa
„Wir gehen nach Berlin – aber nicht in eine neue Republik.“ Kohl im Juli 1999 in Anspielung an die sogenannte Bonner Republik Quelle: dpa
Sie und Du: „You can say you to me.“Kohl zu Margaret Thatcher – nichtwissend, dass das englische You das höfliche Sie und das Du gleichermaßen bedeutet. Quelle: AP
Gnade der späten Geburt: „Ich rede vor Ihnen als einer, der in der Nazizeit nicht in Schuld geraten konnte, weil er die Gnade der späten Geburt und das Glück eines besonderen Elternhauses gehabt hat.“Kohl am 24. Januar 1984 in einer Rede vor der Knesset in Israel Quelle: dpa
Wahlkampf wie ein Marathonlauf: „Wahlkampf ist ein Marathonlauf. Es kommt nicht darauf an, wer auf den ersten Metern vorn liegt, sondern wer am Schluss gewinnt.“Kohl in einem Zeitungsinterview 1998 Quelle: REUTERS

Kohl selbst hat sich das Ausmaß falsch verstandener Solidarität nicht vorstellen können und den Kosten des Euro die Chancen eines integrierten Wirtschaftsraumes entgegengehalten, nicht zuletzt für die deutsche Exportindustrie - ein Argument, das in Stellungnahmen von Verbandsvorständen und Top-Managern bis heute nachhallt. Unumstritten bleiben seine Verdienste um die deutsche Einheit. Kohl hat damals, als Intellektuelle, Linksliberale und Politiker aller Parteien feuilletonistischen Gespenstern von Zweistaatlichkeit und Kulturnation nachjagten, das „Fenster der Geschichte“ aufgehen sehen und mit mutiger Entschlusskraft die Weichen gestellt für die blockfreie, dezentrierte Welt, in der wir heute leben.

Es ist töricht, Kohls beherzte Politik gegen auf die aufopferungsvolle Freiheitsbewegung in der DDR oder Gorbatschows Perestroika auszuspielen, um seine, ja: historische Großtat zu relativieren. Für den langen Moment der Weltwende 1989/90 schien Helmut Kohl damals das „Ende der Geschichte“ gekommen, schienen historischer Auftrag, programmatische Mission und eine sich gegenwärtig vollziehende politische Wirklichkeit ineinanderzufallen: Geschichte als Subjekt - Helmut Kohl ihr Werkzeug. Man hat ihn sich in jenen Monaten als glücklichen Menschen vorzustellen.

Die wichtigsten politischen Stationen Helmut Kohls

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