Helmut Schmidt hat um seine Schuld und Verantwortung kein Aufhebens gemacht. Seine Politik war un-moralisch im besten Wortsinn, das heißt strikt an ethischen Wertmaßstäben orientiert, an politischen Lehren, die er aus den wirtschaftlichen Notjahren der späten Weimarer Republik gezogen und als Oberleutnant im Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte. Nicht zufällig gehörte das Schachspiel zu seinen privaten Leidenschaften. Helmut Schmidt hat stets versucht, mit neutralem Blick auf sich selbst und das Weltgeschehen zu schauen und viel Selbstsicherheit aus dem soziologisch-distanzierten Verhältnis gezogen, das er zur eigenen Person und zu seinen Ämtern unterhielt.
Er gefiel sich in seinem unmöglichen Anspruch, politische Objektivität zu verkörpern. Er genoss seine Zugehörigkeit zur Geistesaristokratie. Und er mochte es, sich als handelnden Politiker zu beobachten, ja: der Beobachter aller Beobachter zu sein - ausgestattet mit dem seltenen Privileg, anfallende Weltlichkeiten von höherer Warte aus zu überblicken. Nicht wenige Weggefährten haben Helmut Schmidt des Hochmuts bezichtigt, der Arroganz. Doch die Deutschen haben seine intellektuelle Blaublütigkeit gemocht. Sie haben gespürt, dass Helmut Schmidt sich im Deutschen Herbst in ihrem Namen schuldig machte und dass er dennoch standhaft blieb, gegen die terroristischen Gewalttäter und gegen die konservativen Politeiferer: „Der Rechtsstaat hat nicht zu siegen, er hat auch nicht zu verlieren, sondern er hat zu existieren!“
Helmut Schmidt wurde 1953 erstmals in den Bundestag gewählt. Er war ein glänzender Redner, verdiente sich den Ehrentitel „Schmidt-Schnauze“ und zog mit kalter Rage gegen die zu Felde, die er verdächtigte, den Bruch mit der Vergangenheit nicht konsequent genug vollzogen zu haben. Umgekehrt entfernte er sich zunehmend vom ideologischen Glutkern seiner Partei. Die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erschienen ihm bald wichtiger als die Planspiele des demokratischen Sozialismus. Auch hegte er als verteidigungspolitischer Sprecher der SPD den Verdacht gegen sich, in der Debatte um die Wiederbewaffnung zu sehr von Gefühligkeit statt Sachverstand geleitet gewesen zu sein.
Das nachholende Bekenntnis seiner Partei zur liberalen Marktordnung (Godesberger Programm, 1959), war für ihn nicht nur eine Voraussetzung zur Regierungsfähigkeit der SPD, sondern auch eine wichtiger Sieg sozialdemokratischer Realitätsannäherung. Und doch sollte es noch ein Dezennium dauern, bis die SPD erstmals den Kanzler stellte. Helmut Schmidt ließ es nicht ungenutzt verstreichen. Seit 1961 Innensenator in Hamburg, seit 1966 SPD-Fraktionschef im Bundestag, stieg er unter Willy Brandt zum Verteidigungsminister (1969 bis 1972), später zum Finanzminister (1972 bis 1974), nach dessen Rücktritt schließlich zum Bundeskanzler (1974 bis 1982) auf.
Der Bruch mit der visionären Gesellschafts- und Ostpolitik seines Vorgängers konnte dramatischer nicht sein. In einer Zeit handfester Probleme wolle er sich „in Realismus und Nüchternheit auf das Wesentliche“ konzentrieren, so Helmut Schmidt in seiner Regierungserklärung, auf das, „was jetzt notwendig ist“. Damit meinte er den Zusammenbruch des Systems stabiler Wechselkurse (1973), die expansive Geldpolitik der USA, den schwachen Dollar und die massiven Devisenzuflüsse in die Bundesrepublik. Deutschland stand vor der größten wirtschaftspolitischen Herausforderung, seit Ludwig Erhard die Soziale Marktwirtschaft durchgesetzt hatte. Die Inflation lag bei sieben Prozent, die Aufwertung der D-Mark hemmte den Export, die Betriebe drosselten die Produktion.
Gleichzeitig verhängten die arabischen Staaten einen Lieferstopp für Erdöl und beschleunigten damit den Preisauftrieb, während die Gewerkschaften ein doppeltes Lohnplus von 12 Prozent (1973) und noch einmal 11,4 Prozent (1974) durchsetzten. Das Ergebnis: Stagflation (Teuerung und Rezession) und Arbeitslosigkeit. 1973 standen 273.000 Deutsche ohne Job da, zwei Jahre später waren es bereits 1,07 Millionen. Helmut Schmidt reagierte mit einem Mix aus - teilweise falsch verstandenem - Monetarismus (Erhöhung des Diskontsatzes, Kaufkraftabschöpfung durch Steuern), Keynesianismus (staatliche Investitionsprogramme) - und mit der Idee einer weltwirtschaftlichen Globalsteuerung. Gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing erfand er 1975 den Weltwirtschaftsgipfel - ein Forum zur Koordination grenzenloser Probleme, das als G7-Gipfel Karriere gemacht hat.
Auch in Fragen der Sicherheitspolitik spitzte sich die Situation zu. Die Sowjetunion stationierte SS-20-Atomraketen in Mitteleuropa, die USA drohten die Entwicklung der Neutronenbombe an - und Deutschland fürchtete, zum Schlachtfeld eines Nuklearkriegs der Großmächte zu werden. Der Nato-Doppelbeschluss, der die USA in ein sicherheitspolitisches Konzept der westlichen Welt einband, war in weiten Teilen ein Verdienst von Helmut Schmidt. Er sah die Stationierung von modernen Mittelstreckenraketen in Westeuropa vor - und die Bereitschaft zu Verhandlungen, die die beiderseitige Abrüstung zum Ziel hatten. Für die damals erstarkende Friedensbewegung brachte Schmidt nur Verständnislosigkeit auf. Sein Denken war damals - und blieb es bis zuletzt - streng strategisch, staatsräsonal, machtpolitisch, anti-emotional.