Neue Serie Soziale Marktwirtschaft in der Kritik: Wohlstand nicht für alle

Seite 3/3

Bundeskanzler Gerhard Quelle: dpa-dpaweb

Dazu kommt die Angst, ein entfesselter, durch die Globalisierung längst schrankenloser Kapitalismus könne auch die Demokratie aushöhlen. Unternehmen halten sich nicht mehr an Grenzen, die Macht nationaler Politik schwindet. Und in der Wirtschaftswelt reüssieren ungewöhnliche Wettbewerber. China etwa ist Lichtjahre entfernt von einer Demokratie westlichen Vorbilds. Trotzdem könnte es Deutschland bald als Exportweltmeister ablösen.

Die Globalisierung hat auch die Löhne in Deutschland unter Druck gesetzt. Die realen Bruttoverdienste haben sich zwar seit den Fünfzigerjahren mehr als verdreifacht. Ihren Höchststand erreichten sie aber 1991 – kurz nach der Wiedervereinigung. Und obwohl sich die Wirtschaft derzeit in einem Konjunkturhoch wähnt, sind die realen Bruttolöhne seit 2003 im Sinkflug. Schlimmer noch: Weil der Staat bei Steuern und Abgaben kräftig abkassiert, schrumpft er jedes Brutto auf ein klägliches Netto. „Die Wohlstandsgewinne sind bei der Masse der Bevölkerung noch nicht angekommen“, sagt der Wirtschaftsweise Peter Bofinger von der Universität Würzburg.

So kommt es, dass die Deutschen mit der sozialen Marktwirtschaft heute nicht mehr viel anfangen wollen. Und mit Erhard schon gar nicht. Auch seine Büste, die über den Eingang des Wirtschaftsministeriums wacht, hatte der amtierende Ressortchef Michael Glos erst im vergangenen Jahr dort aufstellen lassen. Da war Erhard schon 30 Jahre tot. Er sollte der erste und einzige Wirtschaftsminister bleiben, den die CDU je hervorgebracht hat.

Noch 2005 hatte Angela Merkel auf die Freiheit gesetzt und eine „neue soziale Marktwirtschaft“ beschworen. Aber dann bescherte die Wahl der Union ein mageres 35-Prozent-Ergebnis, und seither ist es vorbei mit dem Glauben an Erhard. Die große Koalition erhöht die Mehrwertsteuer, verlängert das Arbeitslosengeld, verteilt Rentenbonbons, plant gesetzliche Lohngrenzen und bastelt einen staatlich diktierten Krankenkassen-Einheitsbeitrag. FDP-Parteivize Rainer Brüderle stänkert nun, die Erhard-Büste im Wirtschaftsministerium sollte besser „eingekellert werden“.

Nah an der Spree, in der stolzen Bibliothek des Kanzleramtes, verstauben die Erhard-Bände in den Regalen. Auch die Erstausgabe des Klassikers aus dem Jahr 1957, „Wohlstand für alle“, findet sich in der Sammlung. Als Politiker sollte Erhard Wirtschaftsgeschichte schreiben. Am 20. Juni 1948 hatte er, damals Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in der Bizone, die Einführung der D-Mark begleitet – ein Plan der Westalliierten. Dass Erhard zeitgleich mit dem Leitsätzegesetz aber auch die staatliche Preisbindung aufhob, ging auf seinen eigenen Dickkopf zurück. Die Amerikaner waren sauer. General Lucius Clay, Befehlshaber der US-Besatzungszone, bestellte Erhard erbost zu sich. „Alle meine Berater sind gegen Ihr Vorgehen“, polterte Clay. „Meine auch“, gab Erhard zurück.

Doch Erhard sollte recht behalten. Nach Jahren der Not standen die Deutschen staunend vor prall gefüllten Schaufenstern. Die Händler kramten Bettdecken, Bürsten und Bücher aus ihren Lagern, die sie monatelang gehortet hatten. Die D-Mark stellte Weichen, psychologisch und politisch. Für die meisten Deutschen markierte ihre Einführung einen Neubeginn. Dass sich die sowjetisch kontrollierte Ostzone einer gemeinsamen Währung verweigerte, war ein Schritt zur deutschen Teilung. Mit der D-Mark begann auch der Kalte Krieg – und der Wettstreit der Systeme.

Auch im Westen war ein freies Wirtschaftssystem nach dem Krieg nicht vorgezeichnet. Die SPD liebäugelte mit der Planwirtschaft, und auch die CDU huldigte 1947 in ihrem Ahlener Programm einem christlichen Sozialismus, vor dem sich selbst der sogenannte Arbeiterführer Jürgen Rüttgers gegruselt hätte. Dass die Marktwirtschaft sich durchsetzte, war vor allem Erhards Mut zu verdanken. „Ohne die Überzeugung, dass freie Märkte und nicht staatliche Dekrete die Kräfte unseres Landes am besten zur Entfaltung bringen, hätten wir diesen historisch wohl einmaligen Aufstieg nie geschafft“, sagt Wirtschaftsminister Michael Glos heute.

Spätestens als es zwischen Bremen und Bayreuth die ersten frischen Ananas zu kaufen gab, kehrte auch der Optimismus zurück. Aus den Trümmern stieg Deutschland zum Wirtschaftswunderland auf. Mit ihrem Käfer brausten die Deutschen an die Adria, sie kauften Deichmann-Pumps und sparten für Miele-Kühlschränke. Es herrschte Frieden, unfassbar noch immer, und Vollbeschäftigung. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wuchs die Wirtschaft mit rasanten Raten. Vielleicht hätte es ewig so weitergehen können. Vielleicht. Wenn die Deutschen Erhards Ideen nicht verraten hätten.

Der Abstieg der sozialen Marktwirtschaft begann wenige Jahre nach ihrer Geburt. 1957 setzte Bundeskanzler Konrad Adenauer gegen Erhards erbitterten Widerstand seine Rentenreform durch. Über das Umlageverfahren koppelte er die Rentenbeiträge an die Arbeitsplätze – und belastete damit den Faktor Arbeit. Schon in den Fünfzigerjahren sprang der Beitragssatz von 11 auf 14 Prozent des Bruttolohnes. Bis heute kletterte er auf 19,9 Prozent.

Die soziale Marktwirtschaft zeigte sich bis 1973 noch in Saft und Kraft. Dann kam die Ölkrise. Nach dem israelisch-arabischen Jom-Kippur-Krieg verdreifachten sich die Ölpreise und schockierten die Industriewelt. Seither, so der Politikwissenschaftler Claus Offe von der Hertie School of Governance, sei die soziale Marktwirtschaft als Erfolgsklammer von Wirtschaft und Gesellschaft „auseinandergefallen“. Die Produktionskosten stiegen steil an, die D-Mark wertete auf, die Arbeitslosigkeit schoss in die Höhe und machte die Produktion noch einmal teurer. Ein Teufelskreis.

Danach hatten die Sozialpolitiker kein glückliches Händchen mehr. In den Achtzigerjahren missbrauchte die CDU-geführte Bundesregierung die Arbeitslosenversicherung, um die Frühverrentungsprogramme großer Konzerne zu subventionieren. In den Neunzigerjahren weitete sie den Systemfehler der Sozialversicherung auf die neuen Länder aus: Nach der Wiedervereinigung band sie die Sozialbeiträge auch im Osten an die Arbeitsplätze. Um die Jahrtausendwende stand die Sozialversicherung kurz vor dem Kollaps. So sollte sich bewahrheiten, was schon der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek fürchtete: Der Zusatz sozial könne die Marktwirtschaft so stark aushöhlen, dass sie am Ende ihre Leistungsfähigkeit einbüße.

Was keiner CDU-Regierung gelang, setzte Rot-Grün schließlich um: Die erste Entrümpelung des Wohlfühlsystems. Der Sozialstaat könne in der globalisierten Welt nicht mehr dazu da sein, den Lebensstandard zu sichern, kündigte Gerhard Schröder im März 2003 an. Seine Agenda 2010 war das wohl mutigste Reformprogramm seit Ludwig Erhard, doch es sollte die Sozialdemokratie ihre Regierungsmacht kosten. Es gebar gar die Linkspartei – und änderte damit die Stimmung im Lande. „Es ist doch absurd, dass unter Rot-Grün mehr Reformen möglich waren als heute“, sagt FDP-Politiker Philip Rösler.

Vor fünf Jahren noch als „kranker Mann Europas“ verlacht, steckt Deutschland heute im Boom. Ein Drittel des Aufschwungs geht nach IW-Schätzungen auf die Hartz-Gesetze zurück. Und doch haben sie das Land in eine „gesellschaftliche Zerreißprobe“ getrieben, urteilt Offe. Die Agenda 2010 – ein Phyrrus-Sieg für die soziale Marktwirtschaft? „Die Bürger sind in Angst, Wut und Unsicherheit, wie ich es in dieser Republik noch nie erlebt habe“, sagt der 1940 geborene Wissenschaftler.

Es ist ein Paradoxon. Nach dem jüngsten Armutsbericht der Bundesregierung mildert der deutsche Sozialstaat das Armutsrisiko um 50 Prozent. Arbeitsplätze sind sicherer als zu Beginn der Neunzigerjahre. Langzeitarbeitslose, die ewig zu den Verlierern der Gesellschaft zählten, finden erstmals wieder Jobs. Und doch zweifeln die Deutschen an ihrem Wirtschaftssystem.

Ökonomen und Politikwissenschaftler haben nun eine Sorge: dass die Konjunktur bald wieder kippen könnte – und die Linkspartei und ihr Lockruf des Sozialismus endgültig Oberwasser bekommen könnten. Das Jahr, in dem Deutschland wieder in die Rezession gleite, werde „eines der spannendsten Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik“, sagt Politikwissenschaftler Offe. Für die Menschen. Für die Freiheit. Und für die soziale Marktwirtschaft.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%