Nick Hein - "Polizei am Limit" Wie die Politik die Polizei im Stich lässt

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Die "Nafris" und der große Polizistenfrust

In der Kölner Schreckensnacht standen, wie Hein schreibt, nur etwa 70 Einsatzbeamte einer Ansammlung von bis zu 2000 Männern gegenüber. Dass sie angesichts solcher Zahlenverhältnisse die Frauen vor Ort nicht wirksam schützen konnten ist offensichtlich. Aber so völlig überraschend, wie später dargestellt, waren die Ereignisse für ortskundige Polizisten offenbar nicht. Der Leiter der Innenstadtinspektion hatte, da er wie in den Vorjahren mit „Tumultdelikten nordafrikanischer Gewalttäter“ rechnete, im Voraus 114 Einsatzbeamte angefordert. Sein entsprechender Bericht wurde im Polizeipräsidium aber zensiert – das Wort „nordafrikanisch“ und die Warnung vor „Panik“ gestrichen – und die Personalanforderung reduziert. Warnungen gab es also durchaus. Völlig friedlich war es schließlich in den Vorjahren auch nicht geblieben. „Warum nimmt man nicht diejenigen ernster, die solche Situationen am besten einschätzen können, weil sie im alltäglichen Einsatz persönlich erleben und wissen, womit sie es zu tun haben.“ 

Das Gewaltpotential der im Polizistenjargon „Nafris“ genannten Mehrfachstraftäter aus Nordafrika, die einen Großteil der sexuellen Übergriffe, Diebstähle und Gewalttaten in der Silvesternacht begingen, war jedem Polizeibeamten mit Hauptbahnhof-Erfahrung schon klar. Nick Hein berichtet ausführlich über die unangenehmen Erfahrungen. Nachtschwärmer in der Kölner Innenstadt und viele ausgeraubte Bahn-Fahrgäste haben mit der so genannten „Antänzer“-Methode auch schon traurige Erfahrungen gemacht. Für Polizisten sind sie eine besonders unangenehme Klientel: „Besonders beim Zugriff gebärden sich viele der jungen Nordafrikaner wie Berserker, sie schreien, schlagen um sich, beißen, die Polizisten werden von ihnen verhöhnt, ausgelacht, beleidigt, wenn es sein muss, in handfeste Prügeleien verwickelt“.

Für Hein und seine Kollegen ist es unbegreiflich: „Wie kann ein Asylbewerber, während sein Antrag geprüft wird, Straftaten begehen, ohne Angst zu haben, ausgewiesen zu werden?“ Aus eigener Erfahrung weiß er über den riesigen Frust zu berichten, den es für Polizeibeamte bedeutet, wenn sie diese Straftäter kurz nach Festnahmen wieder in ihrem Revier am Hauptbahnhof antreffen. Von der Justiz fühlen sich die Polizisten im Stich gelassen angesichts der „absurden Abläufe bei Strafverfahren, die dafür sorgten, dass wir es immer wieder mit denselben Straftätern zu tun hatten, die mit Strafandrohungen schon längst nicht mehr zu beeindrucken waren.“ Dazu gehört zum Beispiel, dass Anklagen wegen Widerstands bei der Festnahme in den meisten Fällen aus „prozessökonomischen Gründen“ wegfallen. Die Verletzung eines Polizisten bleibt also unbestraft, weil sie durch ein anderes Delikt des Täters überboten wird. Die Folge laut Hein: „Aufgrund ausbleibender Konsequenzen verhalten sich die Täter der Polizei gegenüber bei jeder weiteren Konfrontation noch respekt- und skrupelloser.“

Die inkonsequente Justiz ist nur eine der Quellen des Frusts für Polizeibeamte. Ausrüstungsmängel tragen ebenso dazu bei: völlig veraltete Computer, zu wenige und schlecht funktionierende Funkgeräte, zu schwache Taschenlampen, keine ausreichenden Schutzausrüstungen.  Die kaufen sich die meisten Polizisten notgedrungen auf eigene Rechnung privat.

Dass das gesunkene Sicherheitsempfinden vieler Menschen nicht mit den Polizeistatistiken zusammenpasst, die keinen generellen Kriminalitätsanstieg zeigen, ist bekannt. Wie die Chefin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach, Renate Köcher, in der WirtschaftsWoche schreibt, rechnen 70 Prozent der Deutschen mit einem großen Terroranschlag in Deutschland und 77 Prozent hätten „auch abseits von Terroranschlägen den Eindruck, dass Gewalt und Kriminalität generell zunehmen“. Solche Empfindungen werden oft als „postfaktisches“ Phänomen abgetan. Allerdings scheinen auch Polizisten diesen Eindruck zu haben: Heins alte Kollegen vom Kölner Hauptbahnhof halten die Zustände für „unfassbar“. Die Nafris, jene nordafrikanischen Diebesbanden seien „alle wieder zurück“  und nach ihrem Empfinden sei die Zahl der Diebstähle in jüngster Zeit gestiegen. „Der eklatante Widerspruch zwischen den Verlautbarungen der Verantwortlichen und der professionellen Einschätzung meiner damaligen Kollegen hinterlässt bei mir gewisse Fragezeichen“, schreibt Hein, „Werden die Statistiken an höherer Stelle schöngerechnet?“ Akuter Fall von postfaktischer Hysterie? Vielleicht. Aber schließlich hat das Polizeipräsidium Köln es auch fertiggebracht, die vergangene Silvesternacht in ihrer ersten Pressemitteilung als „weitgehend friedlich“ zu bezeichnen.

Heins Buch ist als Stimme eines einfachen (Ex-)Polizisten eine ziemlich beunruhigende Lektüre, ein Hilferuf nach politischer Unterstützung von denen, die den ersten Seinsgrund des Staates personifizieren, nämlich die Sicherheit der Bürger. Um was es bei dem Alarm geht, hat der Historiker Michael Wolffsohn kürzlich in der „Jüdischen Rundschau“ deutlich gemacht: „Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Medien Deutschlands, auch anderer Staaten Westeuropas verträumten und versäumten die Wirklichkeit. Sie wähnten sich nach innen und außen sicher. Nun wachen sie auf. Seit langem waren Polizei und Bundeswehr nicht so beliebt wie jetzt.“ Nicht Zivilcourage, also Bürgermut sei angesichts der Bedrohungen der Gegenwart gefragt, „sondern der Mut des Staates zu sich selbst – für uns Bürger.“

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