NRW-Wahl Ruhrgebiet als Sorgenkind und Hoffnungsträger

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Der Wohlstand und das Ruhrgebiet: Eine komplizierte Beziehung

Alle seine drei Kinder haben studiert, arbeiten heute als Ingenieur oder Lehrerin. Einmal im Monat überweist die Tochter einen Teil der Förderung zurück, „Mamarente“ schreibt sie in den Betreff. Und damit nicht genug: Damit es anderen Migranten genauso gehen möge, hat Tahtabas vor ein paar Jahren die Initiative „Zukunft Bildungswerk“ gegründet, an der Universität Duisburg-Essen rekrutiert er Studenten mit Migrationshintergrund, die Zuwandererkinder mit Sprachproblemen unterstützen. „Auch wenn es nicht immer leicht ist, Migranten haben hier in Essen anders als in vielen anderen Ländern die Chance, durch Bildung den gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen“, sagt Tahtabas.

Auch wenn in der Region die Akademikerquote mit 12 Prozent deutlich unter dem Bundesschnitt (18 Prozent) liegt und der Anteil von Kindern, die in armen Familien aufwachsen (25 Prozent), deutlich über dem Bundesschnitt (15 Prozent), gilt auch im Ruhrgebiet das gleiche Aufstiegsversprechen durch Bildung wie überall im Land. „Besonders beim Bildungsniveau von Migranten hat das Ruhrgebiet in den vergangenen Jahren überdurchschnittliche Fortschritte gemacht“, attestiert Winfried Kneip, Chef der Essener Mercator-Stiftung, die sich vor allem in diesem Feld engagiert. Das liegt auch an der hohen Zahl von privaten Bildungsinitiativen wie der von Tahtabas, die Essen neben Hamburg zur Stadt mit der größten Stiftungsdichte Deutschlands machen. Und zum Beispiel die Quote der Schulabbrecher in den vergangenen Jahren in einigen Städten des Ruhrgebiets deutlich haben sinken lassen. So verlassen in Bottrop nur noch 3,6 Prozent aller Schüler die Schule ohne Abschluss, auch Oberhausen oder Mülheim haben im bundesweiten Vergleich unterdurchschnittliche Quoten.

III. Wohlstand

Minus. Die Lichtblicke aber sind sehr unterschiedlich über diese Fünf-Millionen-Einwohnerregion verteilt. Und so warten an diesem Mittwochnachmittag in Essen sehr viele Menschen auf eine Frau mit einer Bauchtasche. Barbara Breuer bindet sich den schwarzen Beutel um die Hüfte, schiebt die Tür der Gertrudskirche auf und tritt auf den Vorplatz. Rund 50 Menschen strecken ihr die Hände entgegen. Breuer verteilt aus der Tasche handgeschriebene Nummernkärtchen. Damit wird die Reihenfolge ausgelost, nach welcher die Menschen in den Saal dürfen. Es ist eine der rund 20 Ausgabestellen der Essener Tafel. Hier bekommen die Sozialhilfeempfänger für einen Euro eine Tasche voll Lebensmittel, die die Supermärkte aussortiert haben. Allerdings müssen sie nach einem Jahr ihre Berechtigungskarte abgeben, dafür werden jede Woche 50 neue Leute in die Tafel-Kundschaft aufgenommen. Doch die Nachfrage ist deutlich höher. „Wir könnten auch 100.000 Leute versorgen, doch als Ehrenämtler kommen wir da an unsere Grenzen“, sagt Tafel-Vorstand Jörg Sator. 33 Prozent der Revier-Kinder leben in Familien, deren Eltern Hartz IV beziehen – mehr als doppelt so viele wie im Rest von Deutschland. Rund 20 Prozent der Menschen sind verschuldet.

Und die Armut der Familien trifft die Städte gleich doppelt. Sie müssen nicht nur die Menschen versorgen. Sondern die Menschen haben auch kein Geld für Konsum, um mal auszugehen, Steuern zu zahlen. Die Steuerkraft liegt bei 80 Prozent des Niveaus von Gesamtdeutschland. Die Kassen der Kommunen sind leer. Die SPD, die dem Ruhrgebiet seit jeher trotz all der Probleme, die man sich gegenseitig verschafft, in einer Art Zwangssymbiose verbunden ist, hat das durch einen Umverteilungsplan zwischen armen und reichen Kommunen im Bundesland zu verändern versucht. Wie so viele Rettungsmaßnahmen für die gebeutelte Herzkammer der Sozialdemokratie löste das aber wenig Grundsätzliches.

Plus. Der Wohlstand und das Ruhrgebiet, das war schon immer eine komplizierte Beziehung. Hier, wo sich ein Großteil der Menschen über die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse definierte, war für entspannt präsentierten Luxus kein Platz. Im Ruhrgebiet wurde das Geld verdient, in Düsseldorf ausgegeben. So ist es bis heute.

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