NRW-Wahl Ruhrgebiet als Sorgenkind und Hoffnungsträger

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Tiefpunkte der städtischen Entwicklung

Und so dominiert beim flüchtigen Durchfahren des Ruhrgebiets ein Bild wie aus dem Schimanski-Drehbuch: diese kleinteiligen Nachkriegsbauten, mit ihren Fensterchen und abgehangenen Gardinen, dazu der Putz in einem Grau, das alle Verfärbungen schon vorwegnimmt, die Rauch und Abgase der Industrie mal hinterlassen könnten. Die große Zeit der Graffiti, die im Rest der Welt in den Neunzigerjahren endete, an den Verkehrsachsen des Ruhrgebiets dauert sie bis heute an. So weit die Fassade, die Hauptstraßen. Wer sich die Mühe macht und in die Nebenstraße schaut, wo kein Bus fährt und kein Lkw hupt, der stößt meist auf deutsche Normalität, wie es sie im ganzen Land gibt. Gemähte Rasenfläche, Warnungen vor dem Hunde, mit Randstein eingefasste Auffahrten zur Doppelhaushälfte und bedruckte Fußmatten.

Vielleicht liegt es daran, dass die Verkehrsachsen im Ruhrgebiet gezwungenermaßen mitten durch die Städte verlaufen, aber hier sind die Hauptstraßen meist nicht Schaufenster, sondern Tiefpunkte der städtischen Entwicklung. Hinzu kommt, dass der nie endende Stadtraum keinen Platz für weitläufige Immobilienträume lässt. Erst wenn dem Geld dann doch mal Platz zur Entfaltung gegeben wird, zeigt sich, wie viel davon sich hinter all dem Grau versteckt. Im Dortmunder Stadtteil Hörde ist in den vergangenen Jahren auf dem Gelände eines alten Stahlwerks ein großer See mit Yachthafen entstanden, die Villen am Nordhang gingen für siebenstellige Summen weg, die Restaurants an der Hafenpromenade sind gut besucht. So muss man auch die Zahlen über den Wohlstand im Revier lesen: Die Kaufkraft pro Kopf beträgt in Duisburg 85 Prozent des Bundesschnitts, es ist der niedrigste Wert unter den 25 einwohnerstärksten deutschen Kreisen. In Essen, Bottrop, Recklinghausen oder Bochum liegt die Kaufkraft derweil im Bundesschnitt, im Ennepe-Ruhr-Kreis am südöstlichen Rand der Ruhrgebiets, und in Mülheim gar fast zehn Prozent drüber. Und so besteht die Herausforderung für die Stadtplaner im Ruhrgebiet nicht nur in der Bekämpfung der Armut, sondern auch darin, dem Geld seinen Platz einzuräumen, sodass es am selben Orte ausgegeben wie verdient werden kann.

IV. Demografie

Minus. Gerd Maschun dreht an jedem Tag seine Runde im Essener Norden. Der 66-Jährige geht die Straßen entlang und inspiziert durch seine runde Brille kritische Stellen, mit seinem Handy dokumentiert er alles. Er macht Bilder von der Holzbank am Marktplatz, die jemand mit Farbe beschmiert hat. Er notiert, dass am U-Bahnhof der Fahrstuhl nicht funktioniert. Er fotografiert die Löcher im Boden, in denen einmal Poller standen: „Einmal reingetreten, schon haben Sie ’nen Haxenbruch“ sagt er. Maschun soll sich um die Senioren in seinem Stadtteil kümmern, und er nimmt seine Aufgabe ernst. Abends schreibt er auf, mit wem er über was gesprochen hat: Im vergangenen Jahr kamen so über 100 DIN-A4-Seiten zusammen.

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