NRW-Wahlkampf Hannelore Kraft hat die Realität ignoriert

Die Ministerpräsidentin setzte ganz auf die alte „Wir in Nordrhein-Westfalen“-Masche von Johannes Rau. Schon damals regierte die SPD an der Realität vorbei. Jetzt rächte sich, dass Kraft diese Politik kopiert.

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Hannelore Kraft's

Eine „Kümmererin“ oder  „Landesmutter“ ist sie, das steht in jedem Porträt über Hannelore Kraft. Sie demonstriert das schließlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Im Wahlkampf sagt sie vor allem Sätze wie diesen: „Das Wir, das zusammenhält in der Gesellschaft, an dem wollen wir weiter arbeiten.“ Und wenn sie jemand nach dem verpufften „Schulz-Effekt“ und den für die SPD verlorenen Landtagswahlen im Saarland und Schleswig-Holstein fragt, sagt Kraft: „Wir haben uns in Nordrhein-Westfalen immer auf uns selbst verlassen.“

Dieser Zusammenklang von „Wir“ und „Nordrhein-Westfalen“ ist für sie selbst und ihre NRW-SPD ein Mantra, eine immer wieder auftauchende Selbstversicherung. Hannelore Kraft zeigt sich in Worten und Gesten als eine gelehrige Schülerin des Mannes, der das Mantra verkörperte: Johannes Rau.

Mit dem Slogan „Wir in Nordrhein-Westfalen“ hat Johannes Rau die Landtagswahlen von 1985 triumphal mit 52,1 Prozent gewonnen. Hannelore Kraft reicht schon die Schwundstufe: „#NRWIR“ steht auf ihren Wahlplakaten. Ähnlich zusammengeschrumpft wird auch ihr Wahlergebnis sein. Umfragen sehen die SPD bei rund 32 Prozent, gleichauf mit Armin Laschets CDU.

Die SPD genießt den Ruf, dass Nordrhein-Westfalen ihre Herzkammer sei. Nur wer sich an die Zeit vor 1966 erinnert, weiß, dass NRW bis dahin eher ein CDU-Land war. Und nur Regionalhistoriker erinnern daran, dass bis in die 1950er Jahre die Arbeiter an Rhein und Ruhr eher kommunistisch wählten – oder, wenn sie katholisch waren, die Zentrumspartei.

Zum SPD-Land machte Nordrhein-Westfalen erst Johannes Rau. Er hat vorexerziert, wie man mit Gefühlen gegen schnöde Wirtschaftsfakten Wahlen gewinnt. Dreimal – 1980, 1985 und 1990 – konnte er eine absolute Mehrheit erringen. Nach dem Wahlsieg von 1980 erklärte der Spiegel Raus Erfolgsgeheimnis: „Seine behutsame Art, sein Streben nach Harmonie und der Versuch, ein Landesvater für alle zu sein.“ Rau erfand, was es bis dahin noch gar nicht gab: eine Landesidentität in dem von der britischen Besatzungsmacht erschaffenen geschichtslosen Bindestrichland.

Sein größter Erfolg, die 52,1 Prozent von 1985, wird vor allem der zu seinem Image perfekt passenden Kampagne gutgeschrieben, hinter der der damals erst 32-jährige Landesgeschäftsführer Bodo Hombach stand. Rau und Hombach verzichteten weitgehend auf parteipolitische Argumente (damals noch eher untypisch), sprachen stattdessen das Heimat- und Selbstwertgefühl der damals durch den Niedergang der Schwerindustrie im Ruhrgebiet gebeutelten Wähler an und setzten ganz auf Personalisierung. Mit dem Slogan: „Wir in Nordrhein-Westfalen - und unser Ministerpräsident“  gelang das alles in einem Streich. Von „SPD“ war auf den Plakaten nichts zu lesen. Das ist der Trick: Das „Wir“-Gefühl soll Kernwählerschaft und Parteifremde gleichzeitig ansprechen.

In seiner Regierungserklärung vom 10. Juni 1985 sagte Rau: „Wir in Nordrhein-Westfalen wissen: Wir leben in einem schönen und starken Land. Wir sind fast 17 Millionen Menschen. Unsere Herkunft ist unterschiedlich, unsere Zukunft ist gemeinsam. Wir leben gerne hier. Vielfalt ist unsere Stärke. Wir sind stolz auf unsere Heimat.“

Bis heute ist dieser Sound überall zu vernehmen, wo die NRW-SPD das Sagen hat. Die Homepage der amtierenden Landesregierung beginnt mit:  „Wir in Nordrhein-Westfalen wollen, dass kein Kind zurückgelassen wird, sondern alle Kinder und Jugendliche beste Bildungschancen erhalten. Wir setzen uns ein für mehr Teilhabe und Zusammenhalt in der Gesellschaft, für starke und handlungsfähige Kommunen, mehr Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt und für eine gute und ökologisch nachhaltige Entwicklung des Industrielandes Nordrhein-Westfalens.“

Das Vermächtnis des "roten Paten"

„Wir in Nordrhein-Westfalen“ steht auch über einer Broschüre des Wirtschaftsministeriums. Der Westdeutsche Rundfunk und die WAZ-Mediengruppe wählten „Wir in Nordrhein-Westfalen“ als Titel einer gemeinsamen Publikationsreihe.  Durchgeschlagen hat das Wir-Gefühl von Hombach und Rau auch in Publikationen der Landeszentrale für politische Bildung: „Bei so viel Zuspruch muss er in den kommenden Jahren seine Landeskinder einfach lieben!“ heißt es auf deren Website zu Raus Sieg von 1980

Im zeitgeschichtlichen Rückblick kann man Johannes Rau allerdings vorwerfen, dass er nicht nur die NRW-Identität und ihre Gleichsetzung mit der NRW-SPD (und vor allem ihm selbst) geschaffen hat, sondern auch die Gründe dafür, dass der SPD gar keine Alternative mehr bleibt zu einem reinen Personen- und Gefühlswahlkampf. Denn unter seiner 20-jährigen Regierung ist Nordrhein-Westfalen im innerdeutschen Vergleich wirtschaftlich, technologisch und auch in der Bildung stark zurückgefallen.

Rau hat zu lange an alten Industrien, insbesondere am Steinkohlebergbau festgehalten und neue Techniken zu wenig gefördert. Die Standortpolitik überließ er de facto WestLB-Chef Friedel Neuber, der mit Raus Segen einige Fusionen alter Industriegiganten dirigierte. Viele hielten den „roten Paten“ für den wahren Landesherrn. Rau konnte sich währenddessen ganz der Pflege seines Images als versöhnender, kümmernder Landesvater widmen.

Rau verdankte seinen Erfolg aber auch einem besonderen Zeitfenster, das sich für ihn auftat: Der Niedergang der Schwerindustrie in den 1970er und vor allem 80er Jahren mobilisierte die damals noch sozial intakte Arbeiterschaft für die SPD. Seine väterlichen Schutz versprechende Kümmerpolitik gab den von Arbeitslosigkeit bedrohten oder  gerade erst arbeitslos Gewordenen eine politische Heimat. „Wir in Nordrhein-Westfalen“ lassen keinen hängen, war die Botschaft.

von Konrad Fischer, Sven Prange, Gregor Peter Schmitz

Doch die Hoffnungen der alten SPD-Kernwählerschaft, dass im Ruhrgebiet alles wieder gut werde und die Schlote weiter rauchen würden, waren eben nicht zu erfüllen. Das Machtgespann Rau-Neuber hinterließ zwar ein Wir-Gefühl und dichtes öffentlich-privates Strippengeflecht in Nordrhein-Westfalen, aber keine wirtschaftliche Perspektive für das Ruhrgebiet. Die WestLB endete wenige Jahre nach Neubers und Raus Tod in einem Desaster. Die ökonomische und soziale Lage zwischen Duisburg und Dortmund, wo einst das industrielle Herz Deutschlands schlug, ist desolat.

Mit der Ruhr-Industrie aber erodierte auch das Milieu, das die Basis für die Erfolge der Rau-SPD abgab. „Der Strukturwandel, der zunächst noch einmal der NRW-SPD zu ungeahnter Stärke verholfen hatte, trägt mittelfristig zum elektoralen Niedergang der NRW-SPD bei", schreibt der Politikwissenschaftler Sebastian Bukow. Sie finde letztlich keine Antwort auf die Erosion des industriellen Milieus. Für Raus Nachfolger hat sich das Fenster zur absoluten Mehrheit geschlossen.

Mit handfesten Regierungserfolgen zu werben, wie es beispielsweise die CSU in Bayern tun kann, fällt der nordrhein-westfälischen SPD schwer. Der Misserfolg des kühlen und betont sachlichen Peer Steinbrück beim Versuch, die von Wolfgang Clement geerbte Ministerpräsidentschaft 2005 zu verteidigen, hat gezeigt, was der SPD blüht, wenn man den Rheinländern und Westfalen gegenüber zu kaltherzig rüberkommt.

Die Düsseldorfer Landesmutter hat daraus ihre Lehren gezogen: Sie überschüttet in Ermangelung eines großen Projekts ihre Landeskinder mit Menschlichkeit: „Den Menschen in den Mittelpunkt jeden Handelns stellen – dafür steht die Landesregierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen unter Ministerpräsidentin Hannelore Kraft.“ Angesichts der Auflösung des Arbeitermilieus und ohne Raus Hoffnungsbotschaft von der Bewahrung der Industriearbeitsplätze im Ruhrgebiet bleibt der SPD nur noch das reine, von sachlichem Balast befreite Wir-Gefühl als stärkstes Pfund im Wahlkampf. Dementsprechend auch die Botschaften auf den NRWIR-Plakaten. „Stolz auf unser Können“, „Stolz auf unseren Zusammenhalt“ und sogar „Stolz auf unsere Zukunft“ sollen die Menschen in Nordrhein-Westfalen sein.

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