Ökonom Straubhaar "In Deutschland werden Chancen immer noch vererbt"

Der Ökonom Thomas Straubhaar fordert ein radikales Umdenken in Deutschland. Ein Gespräch über die Moral der Wohlhabenden, gute Gründe für tausend Euro bedingungsloses Grundeinkommen und das rechte Maß an Ungleichheit.

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Thomas Straubhaar ist Professor für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Hamburg. Quelle: dpa

Herr Straubhaar, wie sehen Sie die Lage der Reichen und Spitzenverdiener in Deutschland?
Thomas Straubhaar: Ich habe sehr viel Verständnis für die kritischen Stimmen, die sagen, dass bis 2008 Gewinne privatisiert und danach die Verluste der Finanzmarktkrise sozialisiert wurden. Dieses Argument ist schwer widerlegbar. Aber nicht alle Reichen sind gleich. Es sind nur einige wenige, die mit ihren Vermögen in Steueroasen ausgewichen sind oder Cum-Ex-Geschäfte gemacht haben. Trotzdem haben sie damit den Ruf der Wohlhabenden pauschal beschädigt – und das spiegelt die Realität nicht wider. Eliten dürfen sich aber nicht anmaßen, dass für sie andere Gesetze und moralische Maßstäbe gelten als für andere. Ein moralisches Verhalten und soziale Verantwortung sind für eine soziale Marktwirtschaft genauso unverzichtbar wie individuelle Freiheitsrechte.

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Glauben Sie, dass das ökonomische Trickle-Down-Argument der Ära Reagan – kurz gesagt: dass es allen besser geht, wenn es den Reichen gut geht – auf Deutschland zutrifft?
Um diese Frage zu beantworten, ist es ganz wichtig, zwei Zustände zu trennen: vor und nach der sozialstaatlichen Umverteilung. Wenn wir nur die Primäreinkommen im Auge haben, dann gilt für Deutschland, dass es zu einer Polarisierung der Einkommen gekommen ist -  und gerade nicht zu einem spürbaren Aufhol-Effekt.

Gilt das generell?
Nein. Wenn wir nur absolute Größen im Auge haben, dann hat ein Trickle-Down weltweit sehr gut funktioniert. Es ist unstrittig, dass sich die Lebensqualität in den vergangenen dreißig Jahren – seit Beginn der Globalisierung also – verbessert hat, zum Teil gewaltig. In China und Südostasien sind hunderte Millionen Menschen aus der Armut in die Mittelschicht aufgestiegen. Dort ist der Satz gültig: Die Flut hebt alle Boote. Aber gleichzeitig gilt auch: Nicht alle profitieren gleichermaßen vom Wachstum.

von Dieter Schnaas, Simon Book, Max Haerder, Mona Fromm

Haben Sie ein Beispiel?
Natürlich. Thomas Piketty kann überzeugend zeigen, dass Kapitaleinkommen schneller gewachsen sind als die Wirtschaft insgesamt. Das heißt, dass diejenigen, die Kapitaleinkommen beziehen, zum Beispiel über Zinsen, Dividenden oder Unternehmensgewinne, viel stärker von diesen Wachstumseffekten profitiert haben als die mit Arbeitseinkommen.

Organisationen wie der IWF oder die OECD kommen mittlerweile zu dem Schluss, dass zu viel Ungleichheit Wachstum hemmt. Warum ist das so?
Die Theorie geht bis auf den amerikanischen Ökonomen Simon Kuznets zurück. Stellen Sie sich eine umgekehrte U-Kurve vor: Wenn alle nichts oder wenig haben, ist die Ungleichheit klein, aber das Elend groß. Totale Gleichheit aller wäre schädlich, weil es sich nicht lohnt, etwas für sein eigenes Fortkommen zu tun. Aber wenn  Ungleichheit zu groß wird, steigen Unzufriedenheit und Widerstandkraft derjenigen, die nicht zur begüterten Elite gehören. Sie glauben dann, dass sie nicht zu den Profiteuren von Globalisierung und Digitalisierung gehören. Wenn die Ungleichheit zu groß ist, dann grassiert die Steuervermeidung und dann leidet irgendwann die gesellschaftliche Stabilität. Wie immer in der Ökonomie gilt: es kommt auf das rechte Maß an.

Diejenigen, die sich abgehängt fühlen, investieren dann auch weniger in ihre Gesundheit oder Ausbildung. Dadurch wird die Ungleichheit noch gravierender und führt zur politischen und ökonomischen Instabilität.
Absolut, das ist der Teufelskreis. Denn gerade wer am ärmsten dran ist, hätte den größten Bedarf für Investitionen in Ausbildung und Gesundheit, aber am wenigsten Geld und frei verfügbare Zeit, um dies zu finanzieren.

Wie kann man dem entgegenwirken?
Nehmen wir ein Beispiel: Eine ungelernte alleinerziehende Verkäuferin an der Supermarktkasse könnte großes Interesse daran haben, weiterzukommen, etwas anderes zu machen und sich weiterzubilden. Aber sie hat die finanzielle Kapazität nicht; sie kann es sich schlicht nicht leisten, für zwei Jahre im Job auszusetzen und kein Einkommen zu erwirtschaften, weil sie dann ihre Familie nicht mehr ernähren könnte. Was wäre die Lösung? Man muss diese Menschen mit Kaufkraft ausstatten.

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