Paritätischer Wohlfahrtsverband Die Schwächen des Armutsberichts

Der Paritätische Wohlfahrtsverband warnt vor einem neuen Rekordwert bei der Armut. Doch die Grundlage der Zahlen ist nicht stimmig – und das Kernproblem sind nicht zu niedrige Unterstützungsleistungen. Eine Analyse.

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Bei den Tafeln in Deutschland erhalten Menschen mit wenig Einkommen Nahrungsmittel. Quelle: dpa

Düsseldorf Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat wieder einen seiner kontroversen Armutsberichte vorgelegt. Die Lobby der tatsächlich oder vermeintlich Ausgegrenzten klagt, weil die Armutsquote auf einen neuen Rekordwert von 15,7 Prozent gestiegen sei. Doch gegen die Wortwahl und Interpretation lässt sich einiges einwenden.

Der Wohlfahrtsverband schließt alle in die Armenstatistik ein, deren Haushaltseinkommen weniger als 60 Prozent des Haushalts in der Mitte der Verteilung beträgt. Das entspricht einer EU-Definition. Die EU spricht dann aber von Armutsgefährdung. Dem Paritätischen ist das zu diffus, er nennt es: Armut.

Ein Streit um den Begriff ist allerdings nicht allzu zielführend, denn dasselbe ist gemeint. EU wie Verband sprechen von Menschen, die über so geringe Mittel verfügen, „dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“.

Auch wo die Grenze gezogen wird, ist klar und transparent. Für einen Single sind es 942 Euro im Jahr 2015. Jeder kann sich selbst ein Bild machen, ob jemand der 942 Euro im Monat ausgeben kann und davon Miete, Nebenkosten und sonstige Fixkosten bezahlen muss, genug Geld für einigermaßen normale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hat.

Dennoch ist die Messgröße unvollkommen. Ein Student, der sich ein paar Jahre einschränkt, ist deshalb nicht unbedingt arm, auf jeden Fall nicht armutsgefährdet. Umgekehrt erfasst die Statistik sehr viele Menschen nicht, keinen eigenen Haushalt haben, die aber als arm gelten würden – Obdachlose etwa oder Pflegebedürftige und Flüchtlinge in Heimen. Auch muss nicht jeder, der in ländlichen Gebieten mit niedrigen Mieten 942 Euro zur Verfügung hat, als arm gelten. Wer allerdings in München oder Frankfurt wohnt, darf wohl auch mit deutlich höherem verfügbaren Einkommen noch als arm gelten.

Doch die regelmäßig ausbrechenden Streitigkeiten um solche statistischen Feinheiten sind nur Ablenkungsgefechte. Im Kern geht es bei Schlussfolgerungen aus solchen Statistiken um ein Werturteil und um widerstreitende finanzielle Interessen. Wie weitgehend soll der Wohlfahrtsstaat dafür sorgen, dass die weniger leistungsfähigen und leistungswilligen Menschen nicht an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden? Kann oder muss man diese beiden Untergruppen unterscheiden? Und wie viel soll der Rest der Bevölkerung dafür zu bezahlen?

Bezahlt wird in Form höherer Steuern und Sozialabgaben zu Finanzierung von Unterstützungszahlungen. Oder in Form höherer Löhne für die unteren Lohngruppen. Letztere steigern den Arbeitsanreiz und tragen idealerweise dazu bei, dass Vollzeitbeschäftigte selten hilfsbedürftig oder arm sind.

Dass trotz der seit langem hervorragenden Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland – jedenfalls gemessen an der Arbeitslosenquote und der Beschäftigungsentwicklung – die Armutsquote oder Armutsgefährdungsquote langsam aber stetig steigt, ist kein gutes Zeichen. Es schafft in erheblichem Maße Unzufriedenheit, wenn sich Leistung in den unteren Bereichen der Gesellschaft nicht zu lohnen scheint.

Gerade im Niedriglohnbereich sind viele Jobs nicht vergnügungssteuerpflichtig. Nicht zuletzt der starke Zulauf für extreme politische Positionen und Parteien zeigt das. Der Wohlfahrtsstaat kann die materiellen Folgen abmildern, aber er kann diese Art der Unzufriedenheit kaum beseitigen. Denn der Eindruck, dass Leistung sich nicht lohnt, wird durch aufgestockte Hilfen eher noch verstärkt.

Die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik sollten sich daher ernsthaft Gedanken darüber machen, ob der in Deutschland sehr große Niedriglohnsektor wirklich die Errungenschaft ist, für die man ihn lange gehalten hat.

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