Pensionsverpflichtungen EZB-Zinspolitik bedroht Mittelstand

Die Nullzins-Politik der EZB ist nicht nur für Lebensversicherer eine Herausforderung. Auch für Firmen wird es immer teurer, ihre Pensionszusagen einzuhalten. Ein großer Mittelstandsverband stellt eine düstere Prognose.

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„Denn eins ist sicher: Die Rente!“, behauptete einst der CDU-Politiker Norbert Blüm. Mit der EZB-Niedrigzinspolitik haben sich die Zeiten geändert. Vor allem die Betriebsrenten im Mittelstand sind gefährdet. Quelle: dpa

Berlin „Denn eins ist sicher: Die Rente!“ Kaum eine Aussage wird so oft zitiert wie die über die gesetzliche Rentenversicherung von Norbert Blüm aus dem Jahr 1986. Doch wie sicher sind eigentlich Betriebsrenten? Viele Firmen haben schon vor Jahren angefangen, Geld für ihre Mitarbeiter zurückzulegen. Doch angesichts niedriger Zinsen müssen sie inzwischen kräftig nachlegen, um ihre Zusagen für die Zukunft auch erfüllen zu können.

Das wird allerdings angesichts der Dauer-Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) immer schwieriger. Für manche Mittelständler könnten die Pensionsverpflichtungen nach Einschätzung des Präsidenten des Bundesverbandes Mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven, sogar existenzbedrohlich werden. Klein- und Mittelbetriebe bilanzierten in der Regel nach dem Handelsgesetzbuch (HGB) und hätten bisher die Lücke zwischen Soll und Haben bei ihren Pensionsverpflichtungen leichter kaschieren können als etwa Aktiengesellschaften. „Jetzt kommt für sie das böse Erwachen. Insolvenzen im Mittelstand sind nicht auszuschließen“, sagte Ohoven dem Handelsblatt (Online-Ausgabe).

Laut Ohoven sind die mittelständischen Unternehmen in Deutschland Pensionsverpflichtungen im Umfang von etwa 24 Milliarden Euro eingegangen. Als Folge der Zinsentwicklung klaffe aber schon heute eine Deckungslücke von etwa vier Milliarden Euro.

„Selbst wenn die Marktzinsen langsam wieder anziehen sollten, belasten die niedrigen Zinsen der vergangenen Jahre den Durchschnittszins“, warnte er. Ein möglicher Zinsanstieg mache sich also kaum oder erst mit zeitlicher Verzögerung bemerkbar. Zudem kämen die geburtenstarken Jahrgänge allmählich ins Rentenalter.

Allerdings hätten Mittelständler so gut wie keine Möglichkeit mehr, ihren Versorgungszusagen zu entkommen. „Früher konnten die Ansprüche an einen externen Anbieter, etwa einen Pensionsfonds oder einen Lebensversicherer, ausgelagert werden“, erläuterte Ohoven. Doch die litten gegenwärtig selbst unter den niedrigen Zinsen. Der Gesetzgeber sollte daher „die Realität der Niedrigzinsphase bei der Abzinsung berücksichtigen“, forderte der Mittelstandspräsident.

Der Mittelstand brauche überdies bessere steuerpolitische Rahmenbedingungen. „Am wirkungsvollsten wäre eine Steuerfreistellung aller im Betrieb verbleibenden Gewinne“, schlug Ohoven vor. Das sichere Liquidität, bringe Investitionen und schaffe Arbeitsplätze.

Ohoven plädierte zudem für die Wiedereinführung der degressiven Abschreibung, die Abschaffung der Erbschaftsteuer und die Einführung einer steuerlichen Forschungsförderung. „Was die Mittelständler mit Sicherheit nicht brauchen, sind weitere Kostentreiber wie Rentenpaket und Mindestlohn.“


Bei steigenden Rückstellungen droht schlechteres Rating

Unternehmen sind gesetzlich verpflichtet, ihren Mitarbeitern eine Entgelt-Umwandlung für die Altersvorsorge anzubieten. Wählen sie die Form einer Betriebsrente, müssen sie Geld in der Bilanz beiseitelegen - also sogenannte Rückstellungen bilden. Dies kann wegen der EZB-Zinspolitik schon jetzt negative Auswirkungen nach sich ziehen.

Mittelstandschef Ohoven wies darauf hin, dass der Mittelstand seine Eigenkapitalquote in den vergangenen zehn Jahren von unter zehn Prozent auf gut 22 Prozent mehr als verdoppelt habe. Das sei deshalb relevant, weil die Pensionsrückstellungen zum Fremdkapital gerechnet würden. „Steigen die Rückstellungen, steigt folglich auch die Fremdkapitalquote“, erläuterte er. „Das führt zu einem schlechteren Rating bei der Bank und verteuert Kredite.“

Vor allem bei großen Konzernen mit einer langen Historie geht es bei den Rückstellungen um beachtliche Summen: Bei Siemens beliefen sich die Pensionsrückstellungen 2014 auf 11,1 Milliarden Euro – gut 700 Millionen Euro mehr als im Jahr zuvor. Und das hängt unmittelbar mit dem niedrigen Zinsniveau zusammen.

„Um die Rückstellungen zu berechnen, prognostiziert das Unternehmen, welche Leistung in Zukunft fließt“, erklärt Karl Wirth vom Wirtschaftsprüfer Ernst & Young. Je weiter der Zinssatz sinkt, desto höher muss die Rückstellung ausfallen: „In der Vergangenheit mit vier bis sechs Prozent Zinsen hatten die Firmen deutlich niedrigere Verpflichtungen.“ Die höheren Rückstellungen wirken sich nicht unbedingt auf den Gewinn aus. Sie binden aber Mittel und engen den finanziellen Spielraum der Firmen ein. „Auf jeden Fall greifen sie das Eigenkapital an“, erklärt Wirth.

Viele Firmen hätten deshalb als zusätzliche Absicherung Vermögen aufgebaut – sogenanntes Planvermögen –, um laufende Verpflichtungen zu finanzieren, erklärt Wirth. Bei Siemens steckten im abgelaufenen Geschäftsjahr 26 Milliarden Euro in Aktien, Anleihen und anderen Anlagen, um die Zahlungen abzusichern.

Bei Daimler belief sich das Planvermögen Ende 2013 auf 14,7 Milliarden Euro. Der Autokonzern zahlte im vergangenen Jahr 2014 außer der Reihe 2,5 Milliarden Euro in sein Pensionsvermögen ein, um Ansprüche abzusichern. Seit Anfang 2010 hat Daimler damit mehr als 7,4 Milliarden Euro extra eingezahlt.


Belastungen werden nach und nach immer sichtbarer

Die Summe der Pensionsverpflichtungen stieg im Jahr 2014 allein für die 30 Dax-Konzerne um 29 Prozent auf 391,7 Milliarden Euro, berichtete jüngst die „Welt am Sonntag“ unter Berufung auf eine Analyse der Beratungsfirma Towers Watson. Gleichzeitig habe sich das Pensionsvermögen um nur 8 Prozent auf 213,5 Milliarden Euro erhöht.

Die Unternehmensberatung Mercer schätzt die Pensionsvermögen aller Dax-Konzerne im Jahr 2014 mit 214 Milliarden Euro ähnlich hoch ein. Dem stehen Mercer zufolge Pensionsverpflichtungen von 373 Milliarden Euro gegenüber.

Grund zur Sorge ist die Differenz allerdings nicht, sagt Mercer-Chefaktuar Thomas Hagemann. Im Gegenteil: „Dass überhaupt ein Planvermögen angelegt wird, ist eine unternehmerische Entscheidung.“ Es sage nichts darüber aus, ob ein Unternehmen nicht auch aus laufenden Mitteln in der Lage wäre, seine Betriebsrenten zu zahlen.

Im Mittelstand werden die Belastungen jetzt nach und nach immer sichtbarer. „Obwohl das Zinsniveau schon lange sehr niedrig ist, passt sich der in der Bilanz der Mittelständler genutzte langjährige Durchschnittszins nur schrittweise und mit Verzögerung nach unten an“, heißt es in einer aktuellen Analyse des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) zu den Pensionsrückstellungen im Zinstief. Denn dieser sogenannte Referenzzins ergebe sich aus dem weniger volatilen siebenjährigen Durchschnitt der Renditen hochwertiger Unternehmens- und deutscher Staatsanleihen.

Habe der Referenzzins im Jahr 2008 noch bei 5,25 Prozent gelegen, so sei er Ende 2014 auf 4,54 Prozent gesunken. „Das hat erhebliche Auswirkungen: Insgesamt müssen kleine und mittlere Unternehmen seit 2008 zusätzliche Rückstellungen in Höhe von 1,2 Milliarden Euro bilden – davon 580 Millionen allein im letzten Jahr“, konstatieren die der DIHK-Experten.


Steuerrecht lässt Realität der Niedrigzinsphase unberücksichtigt

Verschärft werde die Situation durch das deutsche Steuerrecht, das die Realität der Niedrigzinsphase nicht berücksichtige, heiß es in der Analyse weiter. Die Rückstellungen werden demnach steuerlich wie eh und je mit einem Zinssatz von sechs Prozent abgezinst – ein Wert, der inzwischen „meilenweit“ von den real erzielbaren Renditen sowie den handelsrechtlichen Werten entfernt ist.

„Damit werden schon kleine und mittlere Unternehmen so besteuert, als hätten sie seit 2008 zusätzlich insgesamt 2,3 Milliarden Euro Gewinn gemacht“, konstatieren die DIHK-Experten. „Sie haben also 700 Millionen Euro an Steuern auf Erträge gezahlt, die sie nicht erwirtschaftet hatten.“

Diese Kostenbesteuerung verstößt aber aus DIHK-Sicht gegen ein Grundprinzip des deutschen Steuerrechts, nach dem alle Ausgaben, die für ein Geschäft nötig sind, abgezogen werden, bevor Steuern fällig werden (Nettoprinzip). „Zu diesem Grundsatz sollte der Gesetzgeber schnellstmöglich zurückkehren“, empfehlen die Experten.

Der DIHK sehe in einer solchen „Besteuerung von Phantomgewinnen“ ein Hemmnis für Wachstum und Innovationen. „Sie kann zudem das Engagement von Unternehmen bei der betrieblichen Altersvorsorge belasten, die für alle Beteiligten eigentlich große Vorteile bietet.“

Doch selbst bei einer Korrektur der steuerlichen Benachteiligung bleibt die Ausfinanzierung der Pensionsverpflichtungen nach Einschätzung des DIHK eine schwierige Aufgabe, solange die Zinsen auf einem derart niedrigen Niveau bleiben. Und der niedrige Zins sei vor allem eine Folge ungelöster struktureller Probleme in der Euro-Zone.

„Nur mit einem konsequenten Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit und Wachstumskraft der Volkswirtschaften in der Euro-Zone können eine Rückkehr zu einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung und der Ausstieg aus dem künstlichen Niedrigzins gelingen“, sind die Experten überzeugt. 

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