Wolfgang Nocker ist nicht alles Jacke wie Hose. Im Gegenteil. Der 67-Jährige nimmt es ganz genau mit den Kleidungsstücken. Denn Nocker ist Bekleidungsphysiologe und testet für W. L. Gore & Associates in Putzbrunn bei München Kleidung auf ihre Haltbarkeit und Funktionalität, bevor diese unter dem Label Gore-Tex in den Laden kommt oder sich als extra starker Stoff in gefährlichen Berufen bewährt.
Das Objekt seiner Begutachtung ist diesmal eine Feuerwehrjacke. Ein Brandspezialist zieht die Schutzkleidung über und betritt in voller Montur samt Sauerstoffgerät einen Container, in dem ein Brand simuliert wird. Beobachtet durch eine Glasscheibe, bewegt sich der Mann wie beim Löschen vorwärts. Sensoren an seinem Körper schicken Daten über Wind und Wärme an Nockers Computer. Danach weiß er aufs Grad Celsius genau, wie viel Hitze Stoff und Nähte vertragen.
Die wichtigsten Fakten zum Rentenpaket
Wer mindestens 45 Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt hat, kann vom 1. Juli an ab 63 Jahren ohne Abschlag in Rente gehen. Begünstigt sind aber nur die Geburtsjahrgänge zwischen Mitte 1951 und 1963 - mit schrittweise abnehmendem Vorteil. Phasen vorübergehender Arbeitslosigkeit werden auf die Beitragsjahre angerechnet, nicht jedoch die letzten zwei Jahre vor Beginn der Frührente. Der Stichtag dafür ist jeweils der 61. Geburtstag. Selbstständige, die mindestens 18 Jahre lang Rentenpflichtbeiträge bezahlt und sich dann mindestens 27 Jahre freiwillig weiterversichert haben, können ab 63 ebenfalls abschlagfrei in Frührente gehen. Von der Regelung profitieren in vollem Umfang aber nur die Jahrgänge 1951 und 1952. Jeder spätere Jahrgang muss jeweils zwei Monate über den 63. Geburtstag hinaus arbeiten. Das Modell kostet zwischen 2 und 3 Milliarden Euro pro Jahr.
Etwa 9,5 Millionen Frauen, deren Kinder vor 1992 zur Welt kamen, bekommen Kindererziehungszeiten in der Rente künftig mit einem zusätzlichen Rentenpunkt honoriert. Pro Kind erhalten sie ab 1. Juli dann brutto bis zu 57 Euro monatlich im Westen, im Osten bis zu 53 Euro. Das entspricht einer Verdoppelung des bisherigen Betrages. Dies kostet etwa 6,5 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich.
Wer aus gesundheitlichen Gründen vermindert oder nicht mehr arbeiten kann, erhält brutto bis zu 40 Euro mehr Rente im Monat. Die Betroffenen werden so gestellt, als ob sie mit ihrem früheren durchschnittlichen Einkommen bis 62 - und damit zwei Jahre länger als bisher - in die Rentenkasse eingezahlt haben. Dies kostet zwischen 200 Millionen und 2,1 Milliarden Euro.
Um Frühverrentungen zu verhindern, sollen die bislang gedeckelten Mittel für Rehabilitationsleistungen dynamisiert werden. Dafür sind Mehrausgaben zwischen 100 und 200 Millionen Euro veranschlagt.
Nicht Teil des Pakets, aber von Union und SPD fest vereinbart ist, den Renteneintritt flexibler zu gestalten - und zwar auch nach Erreichen der gesetzlichen Regelaltersgrenze.
Tester Nocker hat beim US-Technologieunternehmen vor 25 Jahren das bekleidungsphysiologische Labor aufgebaut. Dort hat der lebhafte Weißhaarige zum Beispiel Sicherheitsschuhe auf ihre Stabilität geprüft oder herausgefunden, welche Fasern Schweiß am besten absorbieren. Mit 60 fand der Wirtschaftsingenieur und Physiker, nun sei es genug mit dem Messen und Prüfen, ging erst in Altersteilzeit und zwei Jahre später in den Ruhestand. Doch die Bekleidungsphysiologie ließ ihn nicht los. Als Gore anrief und ihm einen 400-Euro-Job anbot, hatte er sich genug gelangweilt in der Dauerfreizeit. Nocker machte sich selbstständig und arbeitet nun schon im fünften Jahr rund 40 Stunden pro Monat für seinen alten Arbeitgeber. Der Unterschied: „Ich kann mir Projekte von verschiedenen Auftraggebern aussuchen und bin nicht weisungsgebunden“, sagt er. Und: „Die Arbeit macht mir noch genauso viel Spaß wie früher.“
Nocker ist nur ein Beispiel bei Gore. Von den 1500 Beschäftigten sind einige schon im Rentenalter. Und auch die Rente mit 63, für viele Betriebe Grund zur Sorge, schreckt im bayrischen Putzbrunn niemanden. Denn dort hat man vorgebaut.
„Wir finden gemeinsam Lösungen, wenn ältere Mitarbeiter weniger arbeiten wollen“, sagt Anton Stanglmair, der bei Gore die Personalthemen verantwortet. „Denn natürlich wollen wir sie so lange wie möglich im Unternehmen halten.“ Das gelingt mit längeren Pausen, rückenschonenden Hebewerkzeugen in der Produktion, Altersteilzeit auch ohne staatlichen Zuschuss – lauter Details des Personalmanagements, die den Mitarbeitern vermitteln: Wir nehmen euch ernst.
Wer wie Gore agiert, ist also gut vorbereitet auf den drohenden Fachkräftemangel, den die Bundesregierung durch ihre Rente mit 63 noch verschärft. Denn ohne die Alten geht es nicht. Schon heute arbeiten in Deutschland 900.000 Menschen über das 65. Lebensjahr hinaus. Zum Teil aus finanziellen Gründen, aber auch, weil sie lieber Projekte leiten oder an der Werkbank stehen, als in der Schrebergartenidylle langsam Rost anzusetzen. Unternehmen, die sich um diese erfahrenen Mitarbeiter bislang nicht bemüht haben, bekommen jetzt und in Zukunft heftige Probleme.
Verluste überblicken
Denn das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat errechnet, dass durch die Neuregelung allein in diesem Jahr 240.000 Personen die Rente mit 63 in Anspruch nehmen könnten. Die Zahl setzt sich zusammen aus 150.000 Personen, die ohnehin in den Ruhestand gegangen wären, aber Abschläge in Kauf genommen hätten, die ihnen nun erspart bleiben. Hinzu kommen etwa 40.000 Selbstständige und 50.000 Arbeitnehmer, die sich durch das Gesetz nun tatsächlich früher vom Erwerbsleben verabschieden könnten. Wie viele dieses Angebot tatsächlich nutzen, zeigt sich erst am Jahresende. Bis jetzt sind bundesweit immerhin 85.000 dieser Rentenanträge bei den Versicherern eingegangen.
Um diesen zusätzlichen Verlust an Arbeitskräften zu überblicken, reichen zum Teil simple Instrumente: Personalstruktur analysieren und berechnen. In welchen Abteilungen werden Arbeiter und Angestellte wann in Rente gehen? Und wo kommt es dadurch zu Engpässen? Die Renteneintrittsregeln sind überschaubar: Mindestens 45 Beitragsjahre zur gesetzlichen Rentenversicherung müssen Beschäftigte belegen und nach Juni 1951, aber vor 1953 geboren sein. Dann kommen sie in den Genuss der abschlagsfreien Rente mit 63. Für Jüngere wird die Altersgrenze stufenweise wieder angehoben. Der Jahrgang 1964 geht dann nach 45 Jahren wieder mit 65 ohne Abschläge in Rente.
Darauf können Unternehmen rechtzeitig reagieren. Ausbildung und Nachfolgeplanung lauten die Stichworte, die in Konzernen wie der Allianz, BMW oder Audi die Personalentwickler beschäftigen, aber von den meisten Mittelständlern bisher vernachlässigt werden. Dabei ist es keine Frage der Größe, sich einen Überblick zu verschaffen. Fortschrittliche, international arbeitende Familienbetriebe wie das Elektrotechnikunternehmen Phoenix Contact im ostwestfälischen Blomberg, der Spezialist für Vakuumtechnologie J. Schmalz im Schwarzwald und Antriebstechniker EBM-Papst im Fränkischen, die schon wegen der abgelegenen, ländlichen Standorte mehr in Mitarbeitersuche und deren Bindung investieren, wissen genau, was auf sie zukommt. Bei EBM-Pabst könnten von fast 12.000 Beschäftigten in den nächsten zwei Jahren etwa 150 die Rente einreichen.
Genau das beschäftigt auch die Chefs der Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein (VHH). Hier rechnen die Personaler damit, dass von den gut 1600 Mitarbeitern bis 2019 acht Prozent in Rente gehen. Durch das Andrea-Nahles-Gesetz verkürzt sich der Planungszeitraum um zwei Jahre. „Der Druck steigt zwar“, sagt VHH-Vorstand Toralf Müller, „aber das wird für uns nicht dramatisch problematisch.“ Für 2014 liegt ihm noch kein einziger zusätzlicher Rentenantrag vor. Denn Müller und seine Mannschaft haben rechtzeitig gehandelt.
„Je genauer wir die Personen und ihre Berufe kennen, desto besser können wir überlegen, wie wir die Mitarbeiter halten“, sagt Müller. Der VHH-Demografietarifvertrag etwa sorgt mit Dienstplänen für Ältere und Gesundheitsbausteinen dafür, dass der Rücken, gemeinhin Schwachstelle aller Berufsfahrer, länger stabil bleibt. Den Zuschuss für Fitnesskurse und Sportvereine nehmen die Mitarbeiter gerne. Jeder zuverlässige und gesunde Fahrer, der in Rente geht, kann für 450 Euro im Monat dabeibleiben. 96 solcher Teilzeitrentner kurven derzeit durch den Osten und Westen Hamburgs bis nach Altona oder an die Alster.
Traumjob Busfahrer
Die meisten haben viele Jahre hinterm Lenkrad von einem der 577 Busse des Nahverkehrsunternehmens gesessen. Aber einige sind Spätberufene. Wie Jan Hahnheiser, der nicht mehr länger bei der Versicherung oder als selbstständiger Anwalt schuften wollte und so mit 61 noch den Busführerschein machte und zwei Jahre lang in Teilzeit den dichten Verkehr zu überlisten suchte. „Eigentlich will doch jeder Junge Lokomotivführer werden“, scherzt der Frührentner, der jetzt auf einen Minijob umgestiegen und noch drei bis fünf Tage im Monat auf Tour ist. „Ich muss finanziell nicht, will aber noch fahren.“
Für andere ist nicht die Freude am Fahren, sondern der Zuverdienst Anreiz, um weiterzumachen. „Gute Fahrer, die die Speditionen jenseits der Rentengrenze halten wollen, werden besser bezahlt“, sagt Rüdiger Ostrowski, Vorstand des Verbandes Spedition und Logistik Nordrhein-Westfalen. Nun müssen die Firmen früher tiefer in die Tasche greifen, denn viele der begehrten Fahrer können mit 63 statt mit 65 in Rente gehen. 10 bis 15 Prozent Zuschlag aufs Vollzeitgehalt sind keine Ausnahme. Und: Für den Fernverkehr werden die Fahrer noch knapper, weil Ältere lieber im Nahverkehr unterwegs sind.
Erfahrung und Wissen halten will auch Bosch. Innerhalb der nächsten zehn Jahre könnten dort ein bis zwei Prozent der 107 000 Beschäftigten zusätzlich abschlagsfrei in Rente gehen, also etwa 2000 Mitarbeiter über alle deutschen Standorte. Bosch-Personalgeschäftsführer Christoph Kübel hält die Rente mit 63 für ein falsches Signal: „Die Rente mit 67 ist der richtige Weg.“ Für den Technikkonzern selbst sieht er allerdings kein Risiko. Etwa 100 Arbeitszeitmodelle, Altersteilzeit und der im Metalltarifvertrag festgelegte Anspruch auf einen flexiblen Renteneinstieg schaffen gleitende Übergänge in die dritte Lebensphase. Schon bisher gingen einige Arbeitnehmer vor dem 65. Lebensjahr in den Ruhestand. Dennoch versucht auch Bosch, mit zertifizierten Arbeitsplätzen und Gesundheitsprogrammen die Mitarbeiter in der Produktion zu halten, dank derer Erfahrung die Fließbänder niemals stillstehen.
Mit den Senioren zufrieden
Und wer doch geht, kann für Projekte wiederkommen – anteilig bezahlt nach seinem letzten Gehalt. Die Tochtergesellschaft Bosch Management Support, gegründet, um auf pensionierte Führungskräfte zurückgreifen zu können, öffnet sich inzwischen auch den Werkstattmeistern. 1600 Senioren haben ihre Fähigkeiten und Kontaktdaten in einer Datenbank hinterlassen. 50.000 Arbeitstage leisteten die verrenteten Boschianer im Jahr 2013. 1,6 Prozent der Freiwilligen sind jenseits der 75, die meisten bis 69 Jahre aktiv. Ob es in China, Mexiko oder Deutschland in der Produktion klemmt, die sogenannten Silver Worker springen ein. Und das zur vollen Zufriedenheit der hilfsbedürftigen Bosch-Werke: 90 Prozent würden wieder auf den Rat der jung gebliebenen Alten setzen.
Diese Quote erklärt sich durch die Auslese. „Wir führen Gespräche, denn außer der Qualifikation und dem Wunsch, am Ball zu bleiben, ist es entscheidend, dass die Berater Sozialkompetenz mitbringen“, sagt Robert Hanser, der seit Juli Senioren-Geschäftsführer und selbst mit 60 Jahren in Pension gegangen ist.
Das ist nicht ungewöhnlich, steht die 60 doch bei vielen Führungskräften als Ausstiegsalter im Vertrag. Da diese sich jedoch oftmals noch zu jung für den Ruhestand fühlen, betreuen sie regelmäßig Projekte. Wobei Bosch darauf achtet, dass keine Dauerarbeitsverhältnisse entstehen.
Denn obwohl viele der Teilzeitrentner ihr Wissen gerne an die nächste Generation weitergeben und weiterhin Verantwortung im Unternehmen übernehmen wollen, sollte auch etwas Zeit für den wohlverdienten Ruhestand bleiben.
Wie bei Bekleidungsphysiologe Nocker von Gore. Sein Hobby ist die Jagd. Praktisch daran: Weil Jäger meist früh morgens oder in der Abenddämmerung unterwegs sind, lässt sich diese Leidenschaft bestens mit seinem Job vereinbaren.